Heute vor 56 Jahren marschierten Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein und schlugen den Prager Frühling nieder. Wir sprachen mit Libor Rouček, dem ehemaligen Vizepräsidenten des EU-Parlaments, wie dieses Ereignis sein Leben geprägt hat. 

LE: Was bedeutete der Prager Frühling damals für die tschechoslowakische Gesellschaft?

Bei den ersten Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1946 holte die Kommunistische Partei 38 Prozent der Stimmen. Sie stand also sehr stark da und es gab damals viele Intellektuelle, die die Partei unterstützt haben. Nach der Machtübernahme der Kommunisten im Jahr 1948 wurde das Land sehr stark von den Stalinisten geprägt. Ende der 50er Jahre erkannten also viele ehemalige Unterstützer der Kommunisten, dass dies ein Fehler war und sie sich in ihrem Glauben geirrt hatten. Dies hatte wiederum zur Folge, dass sich Schriftsteller, Theaterleute oder Journalisten seit Mitte der 1960er Jahre darum bemühten, das System ein bisschen zu ändern und es menschlicher zu gestalten. Diese Anstrengungen mündeten schließlich im Prager Frühling. 

LE: Der verstorbene Schriftsteller Arnošt Lustig sagte 2008 in einem Interview, der Prager Frühling war eine wunderbare Wandlung. Von der größten Enttäuschung hin zur großen Hoffnung. Beschreibt das die Atmosphäre innerhalb der tschechoslowakischen Gesellschaft? 

Das, was Arnošt Lustig in seinem Interview sagte, trifft es sehr gut. Und man kann die Enttäuschung der Intellektuellen verstehen – vor allem von Menschen wie Arnošt Lustig. Es gab die nationalsozialistische Besetzung, den Zweiten Weltkrieg, Arnošt Lustig war im Konzentrationslager. All das führte dazu, dass die Menschen sich nach etwas anderem sehnten als dem brutalen Nationalsozialismus oder dem Kapitalismus. Sie haben also gehofft, dass der Kommunismus oder Sozialismus etwas Positives bringen wird. Dann kam die Enttäuschung. Die Generation, der auch Arnošt Lustig angehörte, wollte dies jedoch nicht hinnehmen, sondern etwas ändern. Also haben sie den Prager Frühling ins Rollen gebracht.     

Libor Rouček, geboren am 4. September 1954 in Kladno, studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Wien. Von 1988 bis 1991 arbeitete er als Redakteur für den Radiosender Voice of America, bevor er in die damalige Tschechoslowakei zurückkehrte. Dort engagierte er sich in der Sozialdemokratischen Partei. Mit dem Beitritt Tschechiens in die Europäische Union, wechselte er in das EU-Parlament, wo er 2009 zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt wurde. Heute ist Libor Rouček unter anderem Ko-Vorsitzender des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums. Foto: privat

LE: Nachdem das Regime einzelne Reformen umgesetzt hatte, gab es da schon die Befürchtung, dass Moskau intervenieren oder die Truppen des Warschauer Pakts einmarschieren könnten?

Die Begeisterung war am Anfang so groß, dass eigentlich niemand daran dachte, dass so etwas passieren könnte. Erst im April oder Mai hat sich langsam herauskristallisiert, dass nicht nur die Russen, sondern auch Walter Ulbricht, der damals in der DDR die höchste politische Entscheidungsgewalt besaß, gegen die Demokratisierungstendenzen war, die der Prager Frühling mit sich brachte. Er warnte bereits im März 1968 davor, dass der Sozialismus nicht nur in der Tschechoslowakei, sondern auch in der DDR gefährdet sei.

LE: Welche Eindrücke hatten Sie persönlich vom 21. August 1968?

Ich war damals erst 13 Jahre alt. In dieser Zeit konnte man schon teilweise ins Ausland reisen und ich war mit meiner Familie gerade in Jugoslawien im Urlaub. Es war uns damals sogar gestattet, durch Österreich zu fahren. Dort habe ich dann gesehen, wie die Menschen lebten. Mir ist dabei zum ersten Mal der Unterschied zwischen der Tschechoslowakei und Österreich aufgefallen. 

Während des 21. August war ich gerade mit meinen Eltern auf der Rückreise aus Zagreb. Als wir nun von dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts hörten, sind wir zunächst in Wien geblieben. Wir mussten uns dann jedoch entscheiden, ob wir in die Tschechoslowakei zurückkehren oder ob wir in Österreich bleiben wollen. Letztendlich haben sich meine Eltern für die Rückkehr entschieden. Aber diese Reise öffnete mir die Augen. Seitdem habe ich nicht mehr an den Kommunismus oder die Sowjetunion geglaubt.

LE: Kann man sagen, dass Sie die Ereignisse rund um den Prager Frühling politisiert haben? 

Ja, der Prager Frühling hat mich sehr politisiert. Seitdem habe ich mich mit Politik auseinandergesetzt. Ich las alles, was mir in die Finger kam. Natürlich war das durch die Zensur im Herbst von 1968 beschränkt. Man konnte nur wenige westliche Sender hören, wie beispielsweise „The Voice of America“ und „Radio Free Europe“. Diese Sender habe ich jeden Tag gehört. Und 15 oder 20 Jahre später habe ich sogar für diese Rundfunkstationen in Washington gearbeitet. 

Protestierende Männer im August 1968 vor dem Gebäude des Tschechoslowakischen Rundfunks. Foto: Josef Koudelka / Magnum Photos

LE: Neun Jahre nach der Niederschlagung des Prager Frühlings sind Sie ins Exil gegangen. Was führte zu diesem Entschluss?

Ins Exil zu gehen, war die schwerste Entscheidung meines Lebens. Aber ich wollte unbedingt Politikwissenschaften studieren. Das konnte man in der Tschechoslowakei allerdings nicht. Ich wollte die Welt sehen und ich wollte nicht zum Militär. Ich war kein Pazifist, aber ich wollte keiner Okkupationsarmee, oder einer Armee, die vom Kreml aus gesteuert war, beitreten. Das waren die drei Motive für meine Flucht. Als ich dann den Befehl erhielt, mich bei der Armee zu melden, stand fest: jetzt oder nie.

LE: Wohin sind Sie ins Exil gegangen?

Ich ging zuerst nach Österreich und bin dann gleich weiter illegal in die BRD gereist. Damals gab es noch kein Schengen- oder Dublin-Abkommen. Aber man musste sich auch damals schon im ersten sicheren und demokratischen Land, in welches man einreiste, melden. Nach meiner Einreise wurde ich in Bad Reichenhall verhaftet und im Gefängnis verhört. Von da aus wurde ich ins Gefängnis nach Salzburg abgeschoben, bis man mich schließlich ins Flüchtlingslager nach Reichskirchen bei Wien brachte.

LE: … das klingt nach einer sehr aufwühlenden Zeit.

Ja das stimmt, aber es hatte auch etwas Gutes. Denn Österreich war das einzige Land, welches das Abitur aus der Tschechoslowakei anerkannte. In Deutschland hätte ich dieses wiederholen müssen. Und so konnte ich schon im darauffolgenden Jahr mit meinem Politikwissenschaftsstudium in Wien beginnen.

LE: Zum zehnten Jahrestag des Prager Frühlings wollten Sie auf die Situation in der Tschechoslowakei aufmerksam machen. Wie genau sah das aus?

Ich bin im Jahr 1977 nach Österreich gekommen. Als der zehnte Jahrestag der Niederschlagung des Prager Frühlings anstand, haben wir gemeinsam mit Österreichern ein Komitee gegründet und überlegt, welche Protestaktionen wir veranstalten könnten. Schließlich wurden Protestmärsche und Ausstellungen organisiert. Während all der Planung habe ich immer wieder an Jan Palach denken müssen, der sich im Januar 1969 verbrannt hatte. Natürlich wollte ich nicht zu einer derart radikalen Methode greifen, aber dennoch wollte ich eine moralische Protestaktion durchführen. Also habe ich mich dazu entschlossen, zum zehnten Jahrestag einen zehntägigen Hungerstreik anzutreten. Ich habe also eine Genehmigung bekommen für die Aktion am Wiener Ring. Ich saß damals zwischen dem Büro von Aeroflot und dem der tschechoslowakischen Fluggesellschaft. Dort baute ich mir ein Zelt auf und trat meinen zehntägigen Hungerstreik an.

LE: Wie wurde dieser Hungerstreik von der Öffentlichkeit wahrgenommen? 

Es gab Tageszeitungen, die darüber geschrieben haben. Ich habe Interviews geführt mit einem italienischen TV-Sender und mit Reuters. Die Aktion sorgte also für viel Aufmerksamkeit. Es kamen auch immer wieder alte Großmütter zu mir und boten mir Tee mit Zitrone oder Schokolade an. Die Schokolade konnte ich natürlich nicht annehmen. Den Tee habe ich aber dankend entgegengenommen. 

LE: Gab es auch Reaktionen im Ausland auf Ihre Aktion?

Dadurch, dass die Rundfunkstationen „Radio Free Europe“ und „Voice of America“ von meinem Streik berichteten, bekamen davon Millionen Menschen mit. In der Tschechoslowakei reagierte man darauf, indem man meine Mutter bei der Polizei verhörte. Sie sagten ihr, sie habe ihren Sohn schlecht erzogen und dass sie mich in ihrem Leben nie wieder sehen werde. Ich war ihr einziges Kind, es war sehr schwer für sie zu verkraften. 

LE: Nach der Revolution haben Sie sich entschieden, nach Prag zurückzukehren. Was hat Sie schlussendlich dazu bewegt?

Ich bin damals ins Exil gegangen. Man darf dabei das Exil nicht mit der Emigration verwechseln. Für mich ist die Emigration etwas Dauerhaftes, während das politische Exil temporär ist und so lange besteht, bis sich die politische Situation im eigenen Land stabilisiert hat. Ich wollte ins Exil gehen, da ich im Ausland frei war, studieren und aus der Ferne gegen das politische System der Tschechoslowakei arbeiten konnte. Aber mir war klar, irgendwann werden die Kommunisten ihre Macht verlieren und dann werde ich zurückkehren. Damals sagte mir jeder, ich sei verrückt. Denn niemand glaubte daran, dass die Kommunisten verlieren würden. Doch dann kam 1989 die Revolution. Nicht nur in der Tschechoslowakei, sondern im ganzen damaligen Ostblock.

LE: Im Exil waren Sie als Journalist tätig. Warum haben Sie sich dazu entschieden, nach Ihrer Rückkehr in die Politik zu gehen?  

Ich habe schon immer gewusst, wenn man was verändern möchte, dann muss man selbst aktiv werden und selbst in die Politik gehen. Mein Großvater war Sozialdemokrat und in Österreich habe ich in der SPÖ gearbeitet. Es war also klar, dass ich ein Sozialdemokrat bin und dass ich die Partei erneuern muss. 

LE: Welche Bedeutung hat das Gedenken an den Prager Frühling für die heutige Zeit? 

Nach der Wende wollten Menschen wie Václav Klaus und andere nichts mehr mit dem Prager Frühling zu tun haben. Für sie war der Prager Frühling ebenfalls von Kommunisten durchgeführt. Jetzt würde es aber darum gehen, einen funktionierenden Kapitalismus aufzubauen und nicht darum, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu etablieren. Leider gilt diese Überzeugung unter manchen Journalisten bis heute. Statt den Prager Frühling der Welt als etwas Absonderliches oder Ungewöhnliches zu präsentieren, wird über diese Seite des Kommunismus kaum gesprochen. 

Man muss verstehen: Bis zum Jahr 1968 gab es, abgesehen von den Streitereien zwischen Russland und China, die kommunistische Weltbewegung, die von Russland kontrolliert wurde. Nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 nicht mehr. Natürlich gab es in anderen Ländern bereits Aufstände, wie 1953 in der DDR oder 1956 in Ungarn. Das Besondere am Prager Frühling war jedoch, dass dieser von der Kommunistischen Partei durchgeführt wurde. Seit dem Einmarsch durch die Sowjets kam es zu einem Bruch und der Kommunismus begann sich Stück für Stück zu zerteilen.

Für die Linke in Westeuropa galt der Prager Frühling jahrelang auch als eine Art Vorbild. Das wird bis heute leider nicht richtig verstanden. Es ist kein Zufall, dass man an den Prager Frühling und an die Invasion nur am 21. August erinnert. Aber über den Prozess, was da in dieser Zeit eigentlich geschehen ist, spricht man nicht. Niemand analysiert, ob für die heutige Zeit oder die Zukunft vielleicht etwas Gutes daran war.  

Das Gespräch führte Maximilian Schmidt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der LandesEcho-Ausgabe 9/2023.

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