Die Kinder der Familie Sluk: Eduard (r.), Dieter (m.), Waltraud (l.). Foto: privat

Eduard Sluk gehörte zur deutschen Minderheit in der kommunistischen Tschechoslowakei. Seinen Eltern gelang es, der Vertreibung nach 1945 zu entgehen. 1968 wanderte die Familie aus – genau in der Nacht des sowjetischen Einmarsches am 20. August 1968. Ein Gespräch zwischen Vater und Sohn.

LE Fangen wir Deine Geschichte am besten ganz am Anfang an. Du bist am 20. April 1947 als Sohn deutscher Eltern in Reichenberg geboren. Wie haben sich Deine Eltern kennengelernt?

Mein Vater, Eduard Adolf Sluk kam im Frühjahr 1946 aus englischer Kriegsgefangenschaft in Flensburg nach Reichenberg zurück. Die gut 600 Kilometer nach Reichenberg bewältigte er zu Fuß. Im Mai lernte er dort meine Mutter kennen. Zwischen den beiden befand sich der Stacheldrahtzaun des Sammellagers auf der Husova in Reichenberg. Dort warteten zahlreiche Deutsche auf ihre Abschiebung.

LE Wie haben die beiden es geschafft, der Abschiebung zu entgehen?

Mein Großvater Eduard Stefan Sluk hatte ein Bauunternehmen in Reichenberg und war Tscheche. Seine Ehefrau Richarda, geborene Ginzel, war eine Deutsche, weshalb mein Vater einen deutschen Pass hatte. Er hätte eigentlich auch abgeschoben werden müssen, aber mein Großvater bescheinigte ihm, dass seine Arbeitskraft in seinem Bauunternehmen benötigt wurde. Meinem Großvater gelang es schließlich auch, meine Mutter zusammen mit ihrer Mutter freizubekommen. Er war ein großartiger Organisator. Er wusste, an wen man sich wenden konnte und wen man schmieren musste. Einer schnellen Hochzeit meiner Eltern stand dann nur noch deren unterschiedliche Konfession im Wege. Der Übertritt meines Vaters aus der katholischen in die evangelische Kirche kostete zwei Gänse das Leben; die hat der Pfarrer für den „Verwaltungsakt“ bekommen.

Eduard Sluk, geboren am 20. April 1947 in Reichenberg (Liberec), arbeitet heute als Antiquitätenhändler und Restaurator in Zeutern bei Bruchsal im Landkreis Karlsruhe. Seine Frau Cornelia betreibt das Restaurant Weinschlauch in Zeutern. Sein lebenslanges Interesse an Oldtimern (insbesondere der Marke Tatra) führt ihn auch heute noch häufig in die Tschechische Republik.

LE Wie war eure Situation in der Tschechoslowakei als Angehörige der deutschen Minderheit?

Meine Kindheit war von meiner Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit stark beeinflusst. Meine Eltern bestanden darauf, dass bei uns zuhause ausschließlich deutsch gesprochen wurde. Das führte zwangsläufig zur Zweisprachigkeit, von der ich bis heute profitiere. In der Schule war ich ein Außenseiter und als in der dritten Klasse eine Lehrerin vor der Klasse bekannt gab, mit wem ich am gleichen Tag Geburtstag habe, war mein Spitzname „Hitler“ schnell gefunden. Ich hatte nur sehr wenige Freunde in der Grundschule. Dies änderte sich später durch meine Hobbys, den Flugmodellbau und Motorcross.

LE Welchen Eindruck hat der kommunistische Staat bei Dir hinterlassen? Hast Du Dir besondere Gedanken um die politische Situation gemacht?

Die Ära des Kommunismus war geprägt durch die Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu machen. Man konnte nur ganz wenigen Menschen vertrauen. Viele politische Witze haben in dieser Zeit die Runde gemacht, aber auch da musste man aufpassen, wem man einen Witz erzählt oder noch schlimmer, wer einem einen Witz erzählt, denn es gab auch genügend Provokateure. Die Strafen waren teilweise drakonisch, vom Verlust des Arbeitsplatzes bis zur Gefängnisstrafe. Die Teilnahme an Kundgebungen war obligatorisch und wurde insgeheim kontrolliert und registriert. Ich kann mich noch an die Kundgebungen auf dem Rathausplatz in Reichenberg im März 1953 erinnern, als wir anlässlich des Todes von Stalin und Gottwald bei Schneeregen und bitterer Kälte stundenlang die Trauerreden der Parteifunktionäre anhören durften. Ich war damals in der ersten Klasse. Wenn sich jemand von den Schülern nicht gebührlich benahm, bekam er sofort mindestens eine Kopfnuss und später einen Eintrag in die Kaderakte.

Eduard Sluk um 1965 mit Hund vor dem Haus der Familie in Reichenberg. Foto: privat

LE Welche Kontakte hattest Du mit Menschen, die sich dem Regime entgegensetzten?

Gut erinnern kann ich mich an einen Lehrer aus der Berufsschule, den Herrn Řiha aus Grottau (Hradek nad Nisou). Er hat uns in Tschechisch und Russisch unterrichtet und zusätzlich in seiner Freizeit noch einen Französischkurs gegeben. Er hat uns immer gesagt: „So viele Sprachen du sprichst, so oft bist du ein Mensch.“ Herr Řiha, damals Mitte fünfzig, war ein großer Humanist, was in seinem Unterricht immer durchsickerte. Im Jahre 1963 brachte er eine Übersetzung von Solschenyzins „Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch“ mit, die auf losen Blättern mit der Schreibmaschine geschrieben war. Die ging dann in der Klasse rum und wir haben auch im Unterricht darüber diskutiert. Eine Mitschülerin hat ihrem Vater davon erzählt, der ein hundertfünfzigprozentiger Kommunist war, der hat dann den Herrn Řiha angezeigt. Er wurde sofort aus dem Schuldienst entlassen und musste ab da als Hilfsarbeiter in einer Fabrik seine Brötchen verdienen. Bald darauf starb er.

Auch habe ich Herrn Václavik noch gut in Erinnerung. Er war von 1964-68 auf der Ingenieursschule mein Lehrer für Elektrotechnik. Immer wieder mal hat er uns ironisch von seiner „Umerziehung“ in den Uranbergwerken in Joachimstal (Jachýmov) im Erzgebirge erzählt, wo er über fünf Jahre für ein paar regimekritische Äußerungen inhaftiert war. Nach seiner Rehabilitierung durfte er zwar als Lehrer arbeiten, doch starb er schon 1969 an den Folgen der starken radioaktiven Strahlung, der er unter Tage ausgesetzt war.

LE Wie hast Du den Prager Frühling erlebt? Und wie ist es in diesem Rahmen zu eurer Ausreise aus der ČSSR gekommen?

Den Prager Frühling habe ich nicht sehr bewusst erlebt, und zwar aus mehreren Gründen. Im Herbst 1967, als die Bewegung anfing, habe ich dem Braten noch nicht getraut. Im Januar 68 ließen sich meine Eltern nach 21 Jahren Ehe scheiden. Für meine Mutter bedeutete das eine komplette Entwurzelung, so dass sie das Angebot ihres Vaters, mit uns drei Kindern in die BRD rüberzumachen sofort annahm]. Die Vorbereitungen auf die bevorstehende Auswanderung, das nahende Fachabitur und die parallel zu absolvierende Gesellenprüfung nahmen mich voll und ganz in Beschlag, so dass für die Politik drumherum nicht viel Aufmerksamkeit blieb.

LE Es war Dein Großvater, der euch zur schnelleren Ausreise bewegt hat, so dass diese genau auf den Tag der russischen Invasion fiel?

Ja. Ab Anfang August trafen fast täglich Briefe und Telegramme meines Opas bei uns ein mit der Aufforderung: „Beschleunigt die Ausreise“. Meine Mutter unternahm alles Mögliche, inklusive finanzieller Bestechung der Mitarbeiter der tschechischen Spedition, um unseren Reisetermin vorverlegen, und zwar um fünf Tage, auf den 20. August.

Mein Opa Walter lebte seit 1956 in der BRD, wohin er nach elf Jahren Haft in der ČSR mit der Maßgabe „nie mehr tschechischen Boden zu betreten“ vorzeitig entlassen wurde. Sein Verbrechen war, Major der deutschen Wehrmacht gewesen zu sein, wofür er von einem Volksgericht 1945 in einem achtminütigen Prozess zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Am Rande sei bemerkt, dass mein Opa nicht in der NSDAP war, sondern nur ein Bürger, der seine Wehrpflicht erfüllte. Ursprünglich stammten er und seine Frau aus dem Kuhländchen in Nordmähren. Dort wurde auch meine Mutter 1922 geboren.

Das Haus der Familie Sluk in Reichenberg. Foto aus Familienbesitz.

LE Wie lief eure Ausreise ab?

Am 20. August fuhr um 7.00 Uhr ein großer Möbelwagen mit Anhänger vor unserem Haus vor. Die beiden Fahrer begannen mit meiner Hilfe und unter der Aufsicht zweier Zollbeamter – auch die waren bestochen und tranken in unserer Küche Becherovka – mit der Verladung unserer Habe.

Um 17.00 Uhr haben wir Reichenberg in Richtung Pilsen (Plzeň) verlassen, wo wir um 23.00 Uhr in unserem Hotel ankamen. Vor dem Schlafengehen wollte ich noch ein wenig Radio hören. Doch statt Musik hörte ich, dass sowjetische Truppen gemeinsam mit Soldaten der „Brudervölker“ einmarschiert seien. Wir vier verbrachten den Rest der Nacht mit anderen Hotelgästen in der Lobby vor den Radiolautsprechern. Gegen 5.30 Uhr kam die Aufforderung an die Bevölkerung, keinen Widerstand zu leisten und wie gewohnt zur Arbeit zu gehen. Das beherzigten auch unsere beiden Fahrer; die wollten nämlich vor diesem Aufruf „nirgend wohin fahren“. Um 6.00 Uhr verließen wir Pilsen Richtung Grenze, an der wir gegen 8.00 Uhr ankamen. Ein dienstbeflissener Grenzbeamter erklärte uns, dass die Grenze geschlossen und unsere Reise damit zu Ende sei. Das war für meine Mutter und meine Schwester entschieden zu viel. Beide erlitten einen lautstarken Nervenzusammenbruch, so dass weitere Grenzer heraneilten. Der älteste von ihnen, er hieß Skála, fragte nach, ob unsere Papiere und die Plomben an den Fahrzeugen in Ordnung seien. Nachdem das überprüft war, ertönte Skalás Befehl: „Schranke öffnen!“ Zwei Minuten später waren wir in Bayern, wo eine Horde von Journalisten über uns herfiel. 15 Minuten später blockierte ein Panzer auf der tschechischen Seite die Schranke.

LE Wo seid ihr zuerst untergekommen?

Im Badischen begannen wir nach der stürmischen Begrüßung durch die Großeltern mit der Entladung der LKWs. Nach kurzer Nacht ging es dann wieder zur Registrierung nach Nürnberg in das zentrale Aufnahmelager für Spätaussiedler. Nach drei Tagen Anhörung und Bürokratie ging es mit der Bahn nach Rastatt in das Landesaufnahmelager. Die Bedingungen da waren nicht sehr gut, wir hatten 16 Quadratmeter für uns vier. Zum Glück hat uns unser Opa in Wiesloch eine Wohnung zur Untermiete besorgt, so dass wir das Lager sehr schnell verlassen konnten.

LE Wie empfandest Du die Integration in die Bundesrepublik? Gab es große kulturelle Unterschiede?

Natürlich gab es einige kulturelle Unterschiede zwischen den beiden Ländern, aber dank unserer Zweisprachigkeit war die Sprache schon einmal kein Problem. Wir wollten auch schnell wieder festen Boden unter die Füße bekommen und haben uns entsprechend schnell an unsere neue Heimat angepasst. Das Heimweh nach der alten wich innerhalb von zwei bis drei Jahren fast völlig.

LE Wie blickst Du heute auf die Geschichte der deutschen Minderheit in Tschechien?

Über die deutsche Minderheit in Tschechien weiß ich so gut wie nichts. Unsere alten Verwandten und Freunde sind alle weggestorben, zuletzt vor einem halben Jahr meine 92-jährige Tante, die Schwester meines Vaters. Ich habe noch einige gute Kontakte in die Tschechische Republik, das sind aber ausschließlich Tschechen.

LE Hast Du Deine Heimat vermisst? Was hast Du Dir aus deinem Leben in der Tschechoslowakei bis heute bewahrt?

Anfangs nach unserer Auswanderung habe ich schon das eine oder andere vermisst, das hat sich aber relativ schnell gegeben. Frei nach dem Motto: Vorwärts immer, rückwärts nimmer! Aus meinem Leben in der Tschechoslowakei habe ich gelernt, meinen Optimismus auch in schwierigen Situationen zu behalten. Ich habe die Kunst zu improvisieren und den Humor des braven Soldaten Schwejk mitgenommen.

Das Gespräch führte Robin Sluk

Dieser Beitrag erschien zuerst in der landesecho-ausgabe 4/2023

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