Böllerschüsse, Feuerwerke, in Prag gar eine Militärparade, Konzerte unter freiem Himmel, Ausstellungen, Sonderausgaben der Zeitungen, Dokumentationen in Radio und Fernsehen, Politikerauflauf aus dem Ausland – Tschechen und – etwas weniger auch Slowaken – erinnern an diesem Sonntag an die Gründung ihres gemeinsamen Staates vor genau 100 Jahren. Eines Landes, das es seit 1993 nicht mehr gibt, das aber Spuren hinterlassen hat.
Charleston – und Swingklänge wehen über den Pausenhof des schmucken Prager Thomas-Mann-Gymnasiums. Höchst ungewöhnlich vor Unterrichtsbeginn. Doch auch Schüler und Lehrer erscheinen seltsam angezogen. In langen Ballkleidern oder einem kurzen Schwarzen, drapiert mit knallbunten Rüschchen, mit Hütchen, Handschuhen und langen Zigarettenspitzen in der Hand die Mädchen. Die Jungs mit weißen Hemden, Hosenträgern, Zylindern oder Schiebermützen, langen Sakkos oder Militäruniformen. Auch ein perfekt ausstaffierter braver Soldat Schwejk ist darunter. Selbst Schuldackel Tobi trägt eine bunte Schleife und flitzt aufgeregt zwischen den Teenagern herum.
„Wir wollten den 100. Geburtstag der Tschechoslowakei stilgerecht feiern. Geschichtsunterricht zum Anfassen“, freut sich Direktorin Zuzana Svobodová über den Eifer, mit dem sich die Schüler des Gymnasium der deutschen Minderheit für diesen Freitag Morgen richtig schick gemacht haben. „Jede Klassenstufe hat zudem spezielle Aufgaben erledigt.“ So ist unter anderem eine kleine Ausstellung mit Zeitzeugnissen aus der Zeit um 1918 entstanden. „Die Schüler haben sich intensiv mit dem Feiertag befasst und werden viele Dinge aus der Geschichte wie diesen Tag insgesamt als schönes Erlebnis ihrer Schulzeit im Gedächtnis behalten.“
Ähnliche Szenen gab es vielleicht auch irgendwo in der benachbarten Slowakei, wo man sich mit den Feiern des runden Geburtstages jedoch ein bisschen schwerer tut. Wenn der 28. Oktober in diesem Jahr nicht zufällig auf ein Wochenende fiele, würden die Menschen dort an diesem Tag normal arbeiten. Bára Kapustová, eine der Prager Gymnasiastinnen, findet das traurig: „Die Tschechoslowakei hat auch den Slowaken erstmals Demokratie gebracht. Das sollten sie auch ordentlich feiern.“
Freilich: Als deutscher Geschichtsbetrachter in Prag fühlte man sich an jedem 28. Oktober stets ein bisschen an das mühsame Zusammenwachsen von „Ossis“ und „Wessis“ erinnert. Die „Wessis“ hier – die Tschechen – so hört man häufig, haben damals den „Ossis“ – den Slowaken – erst einmal beigebracht, dass man mit Messer und Gabel isst und dass man zum Schnäuzen ein Taschentuch benutzt. Das klingt etwas übertrieben, aber im Prinzip stimmt es.
Die Slowakei war rund 1000 Jahre ein landwirtschaftlich geprägter, zurückgebliebener Teil Ungarns gewesen – das sogenannte Oberungarn. Böhmen, Mähren und Schlesien – also der tschechische Teil, hatte zwar 300 Jahre unter Habsburg gelebt, waren aber immer dessen entwickeltes industrielles Herz gewesen. „In Wien“ – so sagt man bis heute in der tschechischen Hauptstadt in einer Mischung aus Stolz und Trotz – „wurde regiert, in Budapest wurde getanzt, und in den böhmischen Ländern wurde hart für die Monarchie gearbeitet.“ Was beiden Nationen gemeinsam war: die Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit.
Dennoch: Die Slowaken begehen nicht den 28. Oktober, sondern den Tag der „Deklaration des slowakischen Volkes“ (auch „Deklaration von Martin“ – einer slowakischen Stadt – genannt): Am 30. Oktober 1918 wurde mit dem dort verabschiedeten Dokument dem Beitritt der Slowakei zum gemeinsamen Staat mit den Tschechen zugestimmt. Die Auswahl dieses Tages unterstreicht bis heute die eigenständige slowakische Identität.
Der Gründervater der Tschechoslowakei, Tomáš Garrigue Masaryk, konnte mit dem Ende des Ersten Weltkrieges seinen lang gehegten Traum von einem unabhängigen Staat für die Tschechen und Slowaken verwirklichen. Seine Vision war es, „dass eine Nation nicht nur durch das Land und die Sprache, sondern auch durch Werte und ein humanistisches Ideal gebildet wird“. Die Tschechoslowakei sollte laut Masaryk „kein nationalistisches Konstrukt, sondern eine moderne und progressive Demokratie“ sein. Die Tschechoslowakei gehörte in der Zwischenkriegszeit zu den am meisten entwickelten Staaten Europas. Man nannte das Land auch die „zweite Schweiz“. Der kulturelle, wissenschaftliche und auch wirtschaftliche Aufstieg erfolgte auf Basis neuer demokratischer Rahmenbedingungen.
An sich war aber der Zusammenschluss der beiden Nationen trotz sprachlicher und kultureller Nähe ein künstliches Konstrukt, denn politisch sowie wirtschaftlich trennte sie viel. Allein schon der Begriff „Tschechoslowaken“ ist nie stimmig gewesen. In diesem Land lebten stets Tschechen und Slowaken, keine „Tschechoslowaken“. Und, nicht zu vergessen, Millionen Deutsche, denen es gar nicht passte, in den neuen Staat einverleibt zu werden. Masaryk sprach zwar immer von „unseren Deutschen“, wenn von der de facto größten Minderheit die Rede war – die deutsche Bevölkerung war zahlenmäßig der slowakischen klar überlegen -, doch die Deutschen fühlten sich nicht heimisch in der Tschechoslowakei.
Die Folgen sind bekannt: Die Deutschen in der Tschechoslowakei litten besonders unter der Weltwirtschaftskrise, sahen jenseits der Grenze den wirtschaftlichen Aufschwung unter Hitler und wollten nur noch eines: „Heim ins Reich“. Hitler verleibte sich erst in München unter der Zustimmung der eigentlichen „Schutzmächte“ Prags, Großbritanniens und Frankreichs, sowie Italiens das zumeist von Deutschen besiedelte Sudetenland ein, wenig später auch die „Rest-Tschechei“. Die Slowakei erpresste er, sie erneut unter ungarische Führung zu verdammen, wenn sie sich nicht von Tschechien abspalteten und ihm in jeder Beziehung folgten. „Da fühlten wir Tschechen uns erstmals von den Slowaken schrecklich verraten“, wie meine langjährige tschechische Mitarbeiterin, Marie Novotná, bei jeder passenden Gelegenheit betonte.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden dann an die drei Millionen Deutsche aus ihrer staatlich ungeliebten Heimat Tschechoslowakei kollektiv vertrieben. Nur noch Tschechen und Slowaken lebten fortan dort. 1969, nach dem Prager Frühling, wurde dieser Staat föderalisiert. Die Slowaken hat das nicht zufrieden gestellt. Sie forderten im Zuge der „Samtrevolution“ 1989 erneut nationale Autonomie. Die angeheizte Stimmung spitzte sich 1992 bei den Parlamentswahlen zu. Dabei gewann im tschechischen Landesteil die „Demokratische Bürgerpartei“ (ODS), während im slowakischen Teil die nationalorientierte „Bewegung für eine demokratische Slowakei“ (HZDS) siegte. Die Regierungsbildung war äußerst kompliziert, da eine Zusammenarbeit der beiden größten Parteien angesichts komplett unterschiedlicher Auffassungen unmöglich erschien. Die Folge, die Tschechoslowakei aufzuteilen, war letztendlich die Entscheidung der Führungsfiguren der beiden Parteien, Václav Klaus (ODS) und Vladimír Mečiar (HZDS). Die Bevölkerung wurde nicht gefragt.
Worüber auch? Es hätte nicht genügt, darüber zu entscheiden, ob Tschechen und Slowaken weiterhin in einem gemeinsamen Staat leben wollen. Die Frage war vielmehr, wie genau dieses Zusammenleben aussehen soll. Zu kompliziert für eine Volksbefragung, die vor allem von den Tschechen verlangt wurde, die die Schuld für die spätere Teilung dann einmal mehr den „undankbaren Slowaken“ zuschoben.
Es mussten staatliche Institutionen aufgelöst, die gemeinsame Infrastruktur zergliedert und das gemeinsame Vermögen aufgeteilt werden. Konfliktpotential war ausreichend vorhanden – in einer Zeit, in denen in Europa der Jugoslawienkrieg stattfand. Tschechen und Slowaken fanden die Bitten aus anderen Ländern Europas, auch aus Deutschland, sie möchten sich bitte friedlich trennen, empörend. Das stand für sie völlig außer Frage. Die Parteien handelten die gewaltfreie Trennung mit diplomatischem Geschick aus und legten Grundlagen für eine weitere enge Zusammenarbeit fest. Heute sind sich beide Länder mitunter näher als in der Zeit des gemeinsamen Staates.
Kein Wunder also, dass auch der slowakische Präsident Andrej Kiska am Sonntag nach Prag reist, sich zudem die beiden Regierungschefs Andrej Babiš und Peter Pellegrini treffen (wobei der tschechische sogar ein gebürtiger Slowake ist). „Irgendwie sind wir wie Brüder, wenn wir nicht gerade gegeneinander Eishockey oder Fußball spielen“, grinsen drei der Prager Gymnasiasten, David Poborský, Christian Tiel und David Stoch. „Wir ziehen bis heute an einem Strang.“ Beide Länder, so sei hinzugefügt, lassen sich dabei im Rahmen der Visegrád-Staatengruppe auch nicht von den sehr viel mehr nationalistischen Ungarn oder Polen einvernehmen.
Zwar trennt die gemeinsame Flüchtlingspolitik besagte Gruppe von West-Europa. Aber weder in Tschechien noch in der Slowakei verfolgt man eine Politik „gegen die EU“. Nur zu verständlich: die Hauptstädte Prag und Bratislava sind die beiden Städte in Ostmitteleuropa, die am meisten von der Europäischen Union profitiert und westeuropäische Metropolen im Wachstum längst überholt haben. „Das will niemand aufs Spiel setzen“, sind sich in diesen Tagen Kommentatoren in beiden Nachbarländern einig, ob von „Lidové noviny“ in Prag oder „Dennik N“ in Bratislava.
Der slowakische Präsident Kiska ist nicht der einzige hochrangige Jubiläumsgast an der Moldau: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sich in beiden Ländern angesagt. Dazu der US-amerikanische Verteidigungsminister James Norman Mattis in Prag. Donald Trump hat Präsident Miloš Zeman ein Glückwunschtelegramm gesandt. Das erinnerte daran, dass Masaryk bei der Staatsgründung spezielle Unterstützung des damaligen US-Präsidenten Thomas Woodrow Wilson genoss. Der Prager Hauptbahnhof heißt deshalb bis heute auch Wilson-Bahnhof.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die aus ihren Studienzeiten ein besonders enges Verhältnis zu Prag hat, kam am Freitag in die Moldaustadt zu einem Mittagessen mit dem tschechischen Premier Babiš. Am Abend wollte sie eine Art Überraschungsgast bei der 90. Geburtstagsfeier ihres einstigen tschechischen Ziehvaters Rudolf Zahradnik von der Prager Akademie der Wissenschaften sein.
Die in diesen Tagen viel beschworene Nähe zwischen Tschechen und Slowaken übertüncht, dass vieles nicht mehr so ist, wie es war. Kleine Beispiele: In Bratislava kann man an jedem Zeitungskiosk wie selbstverständlich heute auch tschechische Zeitungen kaufen. In Prag bekommt man nirgendwo eine slowakische Zeitung vom Tag. In Tschechien ist man auf das Internet angewiesen und muss richtig Geld bezahlen, um diese Blätter auch vollständig lesen zu können. Immerhin kann man in Prag via Kabel oder Satellit auch slowakisches Fernsehen verfolgen und umgekehrt. Aber das Interesse lässt nach, vor allem bei den Tschechen. Die Slowaken vergleichen sich noch immer gern mit den Nachbarn, die Tschechen orientieren sich mehr an Deutschland. Schüler beider Länder haben zunehmend Probleme, die Sprache der Nachbarn zu verstehen, sagen Langzeituntersuchungen.
Die Gymnasiasten in Prag beweisen an diesem Freitag aber das Gegenteil: Als sie nicht nur den tschechischen Teil der alten tschechoslowakischen Hymne singen, sondern auch den slowakischen. Ganz ohne Texthilfe. Nur manche Jungs etwas brummend, im Stimmbruch. Aber das ist an diesem besonderen Geschichtstag für sie nicht wirklich von Bedeutung.
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