An einem kalten Februartag besuchte unsere Landesbloggerin Hannah die Gedenkstätte Lidice, die sich 20 Kilometer westlich von Prag befindet. Dort erfuhr sie mehr über die tragische Geschichte des Dorfes und die grausamen Verbrechen während der deutschen Besatzung.

Schon vor meinem Aufenthalt in Tschechien war mir klar, dass ich mich mit den grausamen Verbrechen der Deutschen während des Protektorats Böhmen und Mähren in Tschechien auseinandersetzen wollte. Deshalb fuhr ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln vom Prager Stadtzentrum etwa 50 Minuten in Richtung Westen zum Dorf Lidice. Nach mehrmaligem Umsteigen erreiche ich die Bushaltestelle Památník. Von dort sehe ich schon die Tore der Gedenkstätte Lidice. Ein langer, gerader Weg führt mich direkt zum Eingang. Im Zweiten Weltkrieg wurde Lidice von den Nationalsozialisten vernichtet. Seitdem die deutschen Besatzer an dieser Stelle alle Häuser dem Erdboden gleich machten, ist nichts mehr von dem ursprünglichen Dorf zu sehen. Nur eine Gedenkstätte erinnert an die schrecklichen Taten und Verbrechen der Nationalsozialisten.

Das einst blühende Dorfleben in Lidice

Der Teich auf dem Gelände der Gedenkstätte in Lidice.
Der Teich von Lidice ist auch heute noch auf dem Gelände der Gedenkstätte zu sehen. Credit: Hannah Meurer

Zunächst gehe ich in das Museum der Gedenkstätte – hier befindet sich die Dauerausstellung „Und die Unschuldigen waren schuldig“. Ich betrete das Museum und stehe in einem weiträumigen dunklen Betonraum, der an eine Art Labyrinth erinnert. Niemand außer mir befindet sich in dem Raum und das Labyrinth führt mich durch verschiedene Momente und Erinnerungen aus dem Leben in Lidice: Weihnachten im ehemaligen Gasthof, eine Gruppe von Menschen, die mit einem Boot über den Dorfteich fahren und Jugendliche beim Picknick auf einer blühenden Sommerwiese. Ein anderes Foto, das an der grauen Betonwand vor mir hängt, zeigt eine fröhliche Schulklasse. Die Bildunterschrift verrät mir, dass das Foto acht Tage vor dem schrecklichen Verbrechen aufgenommen wurde. Jeder Schritt lässt mich tiefer in das Leben von Lidice eintauchen.

Willkürlicher Vergeltungsakt

Fotos von glücklichen Tagen vor der Katastrophe konfrontieren mich mit der erschütternden Wahrheit. Die Nazis vermuteten eine Verbindung zwischen dem tödlichen Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren Reinhard Heydrich, und einer Familie, die im kleinen Dorf Lidice lebte. Daraufhin verübte die Besatzungsmacht in der Nacht auf den 10. Juni 1942 ein grausames Verbrechen, wobei die Nationalsozialisten auf brutalste Weise vorgingen: Alle 173 Männer und Jungen des Dorfes wurden im Hof des ehemaligen Dorfbewohners Stanislav Horák erschossen – ohne Erklärung, mit mehreren Schüssen gleichzeitig.

Einige Kinder des Dorfes wurden zur Umerziehung in deutsche Familien gebracht. Die übrigen Kinder wurden im Vernichtungslager Chełmno  in Polen getötet. Auch die Frauen aus Lidice wurden ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. In bewegenden Zeitzeugeninterviews erzählen überlebende Frauen und Kinder von ihren Erlebnissen. Eine Bewohnerin schildert ergriffen den letzten Anblick ihrer Heimat Lidice, bevor die Nationalsozialisten sie nach Ravensbrück deportierten. Eine andere erzählt von dem Augenblick, in dem sie und ihr Kind für immer getrennt wurden. Von den 503 unschuldigen Einwohnern überlebten nur 340. Die Nationalsozialisten bezeichneten die Tat trotz fehlender Beweise als Vergeltungsakt für den Tod von Heydrich.

Nachdem die deutsche Besatzung die Bewohner des Dorfes ermordet oder deportiert hatte, zerstörten sie das gesamte Dorf. Brutale Videoausschnitte werden an die Betonwand des Museums projiziert, die zeigen, wie die Häuser Lidices zerbombt wurden. Jegliche Überreste des Dorfes wurden in Flammen gesetzt und selbst Bäume wurden entwurzelt. Das Dorf wurde wortwörtlich dem Erdboden gleichgemacht.

Gedenken an die ermordeten Kinder von Lidice

Auch außerhalb der Ausstellung sehe ich die Folgen der Zerstörung. Nach dem Museumsbesuch erkunde ich das Außengelände der Gedenkstätte und gehe über den Boden, auf dem einst Lidice stand. Unter anderem steht dort ein  beeindruckendes Denkmal aus Bronze, das nicht nur an die ermordeten Kinder von Lidice, sondern an alle Kinderopfer des Zweiten Weltkriegs erinnert. Ich lausche einem Audioguide und erfahre, dass die Bildhauerin Marie Uchytilová versuchte, die in Chełmno ermordeten Kinder detailgetreu darzustellen. In ihre 82 Statuen ließ sie die Wesensart, Größe und das Alter der Kinder einfließen.

Das Denkmal der Kinderopfer des Zweiten Weltkriegs in Lidice.
Die 82 Bronzestatuen gedenken der Lidicer Kinder, die im Vernichtungslager Chełmno in Polen in einem Gaswagen ermordet wurden. Insgesamt überlebten nur 17 der 105 Lidicer Kinder. Credit: Hannah Meurer

Die St. Martins Kirche

Ich habe die historischen Fotos von Lidice, die ich im Museum gesehen habe, noch vor Augen und versuche mir vorzustellen, wie es hier früher einmal ausgesehen hat.  Dabei entdecke ich auch den Grundriss der ehemaligen Barockkirche St. Martin in Lidice. Es heißt, dass dem Pfarrer der Gemeinde die Freiheit angeboten wurde. Statt das Angebot anzunehmen, entschied sich Josef Štemberka, den anderen Männern von Lidice bis zu ihrem letzten Atemzug beizustehen. Er wurde als letzter hingerichtet.

Ein Umriss der ehemaligen St. Martinskirche in Lidice.
Heute ist nur noch der Grundriss der einst barocken Kirche St. Martin zu sehen. Im Museum der Gedenkstätte wird ein Bild des ehemaligen Innenraums an die Wand projiziert. Credit: Hannah Meurer

Das Massengrab der Lidicer Männer und Jungen

Während ich über die Wege der Gedenkstätte laufe, die von einer riesigen Wiese umgeben sind, komme ich an verschiedenen Erinnerungsorten vorbei. Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf das Massengrab der 173 Männer und Jungen, das auf Wunsch der Lidicer Frauen nie freigelegt wurde. Hier erfahre ich über den Audioguide mehr über die grausamen Details ihres Todes. Wenige Meter daneben sehe ich die Fundamente des Hofes von Stanislav Horak – ein Mahnmal, das an die schrecklichen Verbrechen der Deutschen erinnern soll. Trotz der eisigen Kälte verbringe ich mehrere Stunden auf dem Gelände und lasse mich von der Audio auf meinen Ohren durch die restliche Dorfgeschichte führen. Mit neuem und eindrücklichen Wissen über die deutschen Verbrechen in Tschechien verlasse ich die Gedenkstätte und fahre zurück nach Prag.

Das Massengrab der 173 ermordeten Männer und Jungen in Lidice.
Gefangene aus Theresienstadt wurden nach Lidice gebracht und gezwungen, die riesige Grube des Massengrabes ohne Nahrung und Pausen auszuheben. Credit: Hannah Meurer

Lidice nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrten 143 überlebende Frauen in ihr Dorf zurück. Doch von ihrer einstigen Heimat war nichts mehr übrig. Danach entschlossen sich die überlebenden Frauen, Lidice neu aufzubauen – heute stehen 150 Häuser etwa 300 Meter von der ursprünglichen Stelle entfernt. Der Wiederaufbau und die Gedenkstätte sollen signalisieren, dass Lidice weiterlebt und das Ziel der Nazis, das Dorf auszulöschen, nicht erfolgreich war.

Werden Sie noch heute LandesECHO-Leser.

Mit einem Abo des LandesECHO sind Sie immer auf dem Laufenden, was sich in den deutsch-tschechischen Beziehungen tut - in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur. Sie unterstützen eine unabhängige, nichtkommerzielle und meinungsfreudige Zeitschrift. Außerdem erfahren Sie mehr über die deutsche Minderheit, ihre Geschichte und ihr Leben in der Tschechischen Republik. Für weitere Informationen klicken Sie hier.