Anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz hat sich unsere Landesbloggerin Hannah Meurer auf die Spuren jüdischen Lebens in Prag begeben: mithilfe der interaktiven Karte MemoMap.

Was passierte eigentlich während des Zweiten Weltkrieges direkt vor meiner Haustür? Wer lebte damals in meinem Haus und in meiner Nachbarschaft? Waren es jüdische Familien, die später deportiert und ermordet wurden? Anlässlich der Befreiung von Auschwitz vor 80 Jahren bin ich auf eine interaktive Karte gestoßen: MemoMap. Mit Hilfe der Anwendung soll es möglich sein, das Schicksal von Holocaust-Opfern zu verfolgen und zu erfahren, wie jüdische Menschen in Prag im „Protektorat Böhmen und Mähren“ Stück für Stück aus dem öffentlichen Raum und dem gesellschaftlichen Leben verbannt wurden.

Wie funktioniert MemoMap?

Neugierig öffne ich die Webseite von MemoMap und ich bin erstaunt über die Funktionsweise. Überall in Prag leuchten Markierungen auf der Karte auf. Wenn man darauf klickt, sieht man zum Beispiel unter der Kategorie „Verbotene Orte“ Gebiete, die während der deutschen Besatzung für Juden gesperrt waren. Zudem kann man sehen, in welchen Häusern einst jüdische Menschen lebten. Außerdem kann man mit Hilfe der Karte Standorte von Stolpersteinen finden.

Von der Redaktion nahe der Metro-Station I. P. Pavlova machte ich mich also auf den Weg, um die Karte auszuprobieren und mehr über die Geschehnisse während der Nazi-Besatzung von 1939 bis 1945 in Prag zu erfahren.

Ein jüdisches Wohnhaus

Ein graues Haus nähe der Haltestelle I. P. Pavlova in Prag.
Im Jahr 1942 lebten noch acht jüdische Menschen unter der ehemaligen Adresse Wocelgasse 12 in Prag. Alle von ihnen wurden in den folgenden Jahren von den Nationalsozialisten ermordet. Credit: Hannah Meurer

Kaum verlasse ich die Redaktion, entdecke ich schräg gegenüber den ersten Punkt auf der Karte. In dem Haus lebten acht jüdische Menschen – alle wurden ermordet. Auf der rechten Seite meines Bildschirms sehe ich die Namen der ermordeten Menschen, teilweise sogar mit Fotos. Ich blicke in die Gesichter von Josef und Jiří Klein. Mit einem Klick auf ihre Namen werde ich auf die Internetseite holocaust.cz weitergeleitet und ich bekomme noch mehr Informationen über die Menschen. Dort erfahre ich auch, dass Julie Braunová, eine weitere Bewohnerin, im Juli 1943 von Prag nach Theresienstadt deportiert und wenige Monate später in Auschwitz ermordet wurde.

Ich stehe vor dem Haus und spüre ein beklemmendes Gefühl. Wie oft bin ich schon hier vorbeigegangen, ohne zu wissen, wer hier einmal lebte? Auch bei meinem nächsten Stopp, nur eine Straße weiter, wird mich dieses Gefühl noch verfolgen.

Festnahmen in der Jugoslávská-Straße

Eine Straßenbahn fährt entlang der Jugoslávská-Straße in Prag.
Anhand von Dokumenten aus den Archiven der Prager Polizei kann man auf der MemoMap nachvollziehen, an welchen Stellen jüdische Menschen festgenommen wurden – wie zum Beispiel auch hier in der Jugoslávská-Straße. Credit: Hannah Meurer

Weiter begebe ich mich Richtung Friedensplatz (Náměstí Míru). Bereits im Vorfeld meiner Tour bemerkte ich, dass das gesamte Umfeld des Platzes rot markiert ist. Doch schon auf dem Weg zum Platz vor der Basilika St. Ludmilla muss ich unzählige Male anhalten – so viele markierte Orte begegnen mir bereits auf dem Weg, die Jugoslávská-Straße hoch. Auf der Straße zwischen der Station I. P. Pavlova und dem Friedensplatz ereigneten sich gleich mehrere Vorfälle.

Berta Grossová wurde hier im Jahr 1941 festgenommen, weil sie keinen „Judenstern“ trug. Auch Walter Weinstein wurde an der Straße festgenommen, da er angeblich gegen eine „antijüdische Verordnung“ verstoßen hatte. Die MemoMap zeigt anhand von Originaldokumenten mehr als 1700 Fälle in ganz Prag, in denen jüdische Menschen wegen Verstößen gegen NS-Verordnungen verhaftet wurden. Viele dieser Dokumente stammen aus den Archiven der Prager Polizei und sind in der Anwendung als Originalkopien abrufbar.

Fast täglich fahre ich mit der Straßenbahn an der Jugoslávská-Straße vorbei oder gehe mit der Redaktion um die Ecke Mittagessen. Jetzt sehe ich diesen Ort mit ganz anderen Augen.

Verbotene Orte

Das Theater in Vinohrady.
Aufgrund einer Reihe „antijüdischer Gesetzte“ war es Juden verboten, während der deutschen Besatzung bestimmte Orte in Prag zu betreten – darunter auch das Theater in den Weinbergen (Divadlo na Vinohradech). Credit: Hannah Meurer

Noch fassungslos von meinen vorherigen Entdeckungen, lege ich die letzten Meter zum Friedensplatz zurück. Ab 1942 durften jüdische Menschen den gesamten Platz, der zwischen 1940 und 1945 den Namen „Reichsplatz trug“, nicht mehr betreten. Schon seit 1940 war es ihnen untersagt, sich in öffentlichen Parks und Gärten aufzuhalten. Auch das Theater in den Weinbergen (Divadlo na Vinohradech), das sich links oberhalb des Platzes befindet, ist rot markiert. Die Karte verrät mir, dass Juden in Prag ab 1940 der Besuch von Kinos und Theatern untersagt war. Die Betreiber waren dazu verpflichtet, Schilder mit der Aufschrift „Juden nicht zugänglich“ an den Gebäuden anzubringen.

Beim Anblick der roten Zonen auf der Karte wird mir bewusst, wie konsequent Nationalsozialisten jüdisches Leben aus dem Stadtbild verbannten und Juden vom Rest der Gesellschaft isolierten. In ganz Prag sind über 110 Zonen gekennzeichnet, die für jüdische Einwohner Prags während der deutschen Besatzung unzugänglich waren.

Die Redaktion des Jüdischen Nachrichtenblatts

Der Palác Orbis in Prag.
Im Palác Orbis in Prag befand sich von 1941 bis 1944 die Redaktion des Jüdischen Nachrichtenblatts (Židovské listy). Credit: Hannah Meurer

Nachdem ich rund um den Friedensplatz unzählige ehemalige jüdische Wohnhäuser und auch ein paar Stolpersteine entdeckt habe, laufe ich weiter quer durch Vinohrady (bis 1960 Královské Vinohrady – Königliche Weinberge), bis ich an einem imposanten Gebäude mit einer mächtigen Fassade vorbei komme – dem Palác Orbis. Auf der MemoMap wird mir angezeigt, dass sich in dem Haus von 1941 bis 1944 die Redaktion des Jüdischen Nachrichtenblatts (Židovské listy) befand. Ab 1939 war die Zeitschrift gezwungen, Propaganda der deutschen Besatzung zu verbreiten – unter anderem auch über neue „antijüdische Verordnungen”, die die Rechte und Freiheiten jüdischer Menschen aussetzten. Vor der Eingangstür hängt heute ein Schild, das auf den hier ansässigen Sitz des tschechischen Ministeriums für regionale Entwicklung (Ministerstvo pro místní rozvoj) verweist. Von einem Hinweis auf die jüdische Geschichte des Gebäudes – keine Spur.

Die größte Prager Synagoge

Eine Collage, bestehend aus einem Bild der Sázavská Schule in Prag und einem Bild, das eine Gedenktafel an der Eingangstür der Schule zeigt.
Da wo heute das Gebäude der Sázavská Schule steht, stand früher mal die größte Synagoge Prags. Heute erinnert eine Gedenktafel an die zerstörte Synagoge. Credit: Hannah Meurer

Ein paar Straßen weiter entdecke ich dann die Sázavská-Schule. Bis 1951 stand an dieser Stelle die Synagoge von Vinohrady. Bei einem Bombenangriff der Alliierten wurde die Synagoge größtenteils zerstört und daraufhin wenige Jahre später abgerissen. Nachdem im Herbst 1941 jüdische Gottesdienste verboten wurden, entfernten die Besatzungsmächte die Bänke aus der Synagoge und richteten ein Lager mit geraubten Möbeln aus jüdischen Wohnungen ein.

Ich stehe für eine Weile vor dem Gebäude und auch hier wird mir nochmal mehr deutlich, wie in Prag jüdisches Leben ausgelöscht wurde. Dort wo früher das Zentrum der größten jüdischen Gemeinde in Tschechien war und die größte Synagoge Prags stand, ist heute nichts mehr davon übrig. Im Gegensatz zum tschechischen Ministerium für regionale Entwicklung erinnert die Schule mit einer kleinen Tafel an der Eingangstür an das jüdische Gotteshaus, das sich hier befand.

Zurück in die Redaktion

Mit den ersten Regentropfen kehre ich in die Redaktion zurück. Auf meinem Rückweg sind meine Gedanken ununterbrochen bei all dem, was ich erlebt habe. Ich werde wohl nie wieder an den Orten, die ich heute gesehen habe, vorbeigehen, ohne an das Schicksal der unzähligen Menschen zu denken. Im Alltag hätte ich mir über all die verborgenen Orte, die ich heute entdeckt habe, womöglich niemals Gedanken gemacht. Von außen sieht man den meisten Orten nicht an, was dort einst geschah – jetzt betrachte ich sie mit ganz anderen Augen.

Mein Fazit zur Memo Map

Eine besondere Funktion der MemoMap ist der Zeitstrahl. Während auf dem oberen Bild die Anzahl jüdischer Bewohner im Jahr 1942 veranschaulicht wird, zeigt das untere Bild die Anzahl im Jahr 1945. Credit: MemoMap

Die Handhabung der Karte ist sehr unkompliziert und übersichtlich. Sie funktioniert sowohl auf dem Handy als auch auf dem Laptop. Sie wurde vom Masaryk-Institut (Masarykův ústav a archiv AV ČR ve) in Zusammenarbeit mit dem Institut der Theresienstädter Initiative (Institut Terezínské iniciativy) und dem Multikulturellen Zentrum Prag (Multikulturní centrum Praha) entwickelt. Aktuell ist sie nur auf Tschechisch oder Englisch verfügbar. Bisher kann man MemoMap nur in Prag verwenden, aber die Hersteller planen, die Karte auch auf andere Orte auszuweiten. 

Besonders spannend ist die Ortungsfunktion der Karte. Der einzige Minuspunkt: Es ist nicht möglich, die Karte zu drehen, was die Navigation etwas erschwert. Auf der Webseite der Memo Map können Nutzer zwischen zwei verschiedenen Kartenansichten wählen: Die historische Karte erlaubt es, eine bessere Vorstellung davon zu erhalten, wie es in Prag einmal ausgesehen hat. Zum Navigieren durch die Stadt eignet sich die Ansicht der aktuellen Karte etwas besser.

Besonders erschütternd ist der Zeitstrahl, der das Verschwinden der jüdischen Bewohner Prags sichtbar macht: Während 1942 noch unzählige Häuser von jüdischen Familien bewohnt waren, leert sich die Stadt mit jedem weiteren Jahr. Haus für Haus verschwinden die Namen, bis 1945 fast überall nur noch die Zahl Null steht –  die grausame Realität der Deportationen und Morde durch die Nationalsozialisten.

Egal, ob beim nächsten Spaziergang durch Prag oder von zu Hause aus  – es lohnt sich sehr, MemoMap selbst auszuprobieren. Die Karte eröffnet eine ganz neue Perspektive auf Prag, denn sie zeigt verborgene und vergessene Orte jüdischen Lebens und macht gleichzeitig auf die Grausamkeiten der NS-Besatzung aufmerksam. Bei der Nutzung der Karte werden Geschichten offenbart, die sich hinter Häuserfassaden verstecken und im Alltag unsichtbar sind. Noch immer sind all die schmerzhaften Erinnerungen und Ereignisse in den Straßen und Häusern dieser Stadt lebendig – durch die Karte werden sie ein Stück weit sichtbar. MemoMap zeigt das Schicksal jüdischer Menschen, das niemals in Vergessenheit geraten darf. 

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