Vor zwei Jahren begann der russische Angriff auf die Ukraine. Wie der Krieg inzwischen zum Alltag geworden ist, beschreibt Simon Römer, der sich im Januar für einige Tage im Westen der Ukraine aufhielt.
Diese Nacht habe ich in einem tschechischen Panelák geschlafen, einem Wohnblock in Plattenbauweise. Dieser Panelák steht aber nicht in Prag oder Kuttenberg (Kutná Hora), meinem Wohnort. Er steht in Iwano-Frankiwsk im Westen der Ukraine. Die Tschechen haben ihn in den 70er Jahren gebaut – ein Freundschaftsprojekt. Unterkünfte für die sowjetischen Betreiber der Druschba-Pipeline. Nebenan ein DDR-Plattenbau, meine Heimat. Im tschechischen Plattenbau wohnen Artem und Alina. Ich kenn die beiden seit zehn Jahren, als ich bei Ihnen als Couchsurfer geschlafen habe. Damals haben sie noch studiert. Heute ist Artem einer der besten Streetartkünstler der Ukraine und Alina Projektmanagerin für eine internationale IT-Schule.
Ich möchte noch gerne auf den Markt, ein paar Kleinigkeiten kaufen. Die zwei begleiten mich ins Zentrum. Wir waren gestern schon hier. Die Fußgängerzone in der Nezalezhnosti-Straße ist vielleicht 400 Meter lang. Wenn man langsam läuft, braucht man fünf Minuten – fünf deprimierende Minuten. Hier erinnert die Stadt an ihre gefallenen Soldaten. Töchter, Mütter, Großmütter, Söhne, Väter, Großväter. Ich kann sie nicht zählen, es sind zu viele. Am Ende der Straße, vor den Porträts der gefallenen Soldaten, verabschiedet sich Artem von mir. Er will in sein Atelier und sich nicht zu lange im Zentrum aufhalten. Über einen Telegram-Chat weiß er ungefähr, wo gerade die Militärpolizei läuft und Männer Rekrutierungsbescheide aushändigt. Im Dezember hat die Regierung neue Gesetzentwürfe vorgelegt, die die Rekrutierung von Männern erleichtern soll.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Artem in diesen Krieg zieht, auch wenn er sagt, dass er dafür bereit wäre. Er ist Künstler, eine reine Seele. Beim Abschied von ihm muss ich mir die Tränen verkneifen. Mit Alina gehe ich danach noch auf den Markt der Stadt, wo alte Frauen ihre eigenen Produkte verkaufen – kleine verschrumpelte Äpfel, Kalinabeeren, Pilze. Eigentlich Idylle. Danach bringt mich Alina zum Zug und wir verabschieden uns, mit dem Versprechen, dass wir uns bald wieder sehen.
Im Zug nach Lemberg fahre ich zusammen mit dem Frauenteam der Ringerinnen aus Odessa. Die Mädels haben breitere Rücken als ich. Jetzt bin ich auf einmal doch wieder sicher, dass die Ukraine den Krieg gewinnt.
Im nördlichen Teil des Lytschakiwski-Friedhofs in Lemberg wurde eine Wiese zum Soldatenfriedhof umgewidmet, die den Namen Marsfeld trägt – benannt nach dem römischen Gott des Kriegs. Die gefallenen Soldaten werden in der Regel zur Beisetzung in ihre Heimatorte gebracht. Die Fläche ist etwa so groß wie drei Fußballfelder. Ein Meer aus ukrainischen Flaggen. Jedes Grab trägt das Porträt des Gefallenen. Viele Gräber sind noch mit Weihnachtsschmuck dekoriert.
Eine Oma fragt mich, ob ich ein Grab suche. Ich sage nein. Dann stehen wir gemeinsam vor dem Grab ihres Enkels. Bevor er in den Krieg zog, hat er in Tschechien gearbeitet, 30 Jahre alt war er. Sogar einen Bart hat er sich bei der Armee wachsen lassen. Dabei hatte er gar keinen Bartwuchs, lacht sie. Beim Erzählen über ihn beginnt zu weinen und ich umarme diese fremde Frau. Nach dem Tod ihres Enkels hat sie Ihren Goldschmuck verkauft und den Erlös Ihrer Tochter gegeben, die sich ehrenamtlich um verwundete Soldaten kümmert. Als ich gehe, schenkt sie mir eine Hand voll Bonbons.
Es ist kalt. Die Bilder der Soldaten sind gefroren. Ein Vater säubert wie in Trance für mehrere Minuten das Grab seines Sohns mit einem Eiskratzer fürs Auto. Dann erzählt er, dass ein Geschütz seinen Sohn und zwei weitere Kameraden getroffen hat. Sie liegen in den Gräbern neben ihm. Als ich ihm erzähle, dass ich zwei Söhne habe, funktioniert meine Stimme nicht mehr und ich beginne zu weinen. Er auch. In der letzten Reihe neben den bestehenden Gräbern ist ein neues Grab schon ausgehoben.
Im Zentrum von Lemberg ist Luftalarm, aber keinen interessiert es. Wenn in Russland ein Kampfjet abhebt, beginnt im ganzen Land Alarm. Ich gehe in der Nähe des Bahnhofs in eine Kneipe. Dunkel, verdreckt, es riecht nach chlorhaltigen Sanitärreiniger. Fanschals von Fußballklubs an den Wänden, Munitionshülsen und Panzerfaust als Dekoration, unterschriebene Flaggen von Soldaten. Männer, die getrockneten Fisch essen und Bier trinken. Männer mit Händen, als hätten sie jahrelang schwer auf tschechischen Baustellen gearbeitet. Ein Gast lacht und sagt, dass wir Deutschen ihnen am Anfang nur 5000 Schutzhelme geschickt hätten. Jetzt wären wir aber gute Partner.
Zwei Bier kann ich trinken, dann muss ich zum Zug. Der Zug bringt mich nach Przmysl und per RegioJet direkt nach Prag. Der Bahnhof und die alten sowjetischen Züge wären etwas für Eisenbahnromantiker. Aber bei mir kommt wieder diese Traurigkeit hoch. Der Bahnhof ist voller Soldaten. Ein Angehöriger spielt Gitarre und singt auf der Plattform für einen, der wieder zurück in den Osten fährt. Kleine Kinder und Ehefrauen verabschieden sich von ihren Papas und Ehemännern, die in den Krieg ziehen. Väter verabschieden sich von ihren Familien, die mit meinem Zug wieder in den Westen fahren.
Warum bin ich heute diesen Kreuzweg gegangen? Weil er mir neue Energie geben soll. In den letzten Monaten haben wir in Deutschland und Tschechien Spenden gesammelt, um einen Rettungswagen für die ukrainische Territorialverteidigung zu kaufen. Den haben wir in Lemberg übergeben, von wo aus er in die Region nach Cherson gebracht wurde. Möge er einige Leben retten.
Über den Autor: Simon Römer lebt seit mehr als 10 Jahren in Tschechien. Er war fünf Jahre lang ifa-Kulturmanager bei der Landesversammlung der deutschen Vereine in Prag. Heute arbeitet er remote als Projektmitarbeiter für eine Firma in Chemnitz. Seine Frau und er haben in den letzten Jahren ein altes Bauernhaus bei Kuttenberg (Kutná Hora) saniert, wo sie mit ihren zwei Söhnen wohnen. In Vergangenheit hat Simon Römer bereits mehrere Projekte und Spendensammlungen zur Unterstützung der Ukraine organisiert, u.a. mit der Aktion „Bratwurst gegen Putin“.