Zum ersten Mal steht mit Vratislav Vajnar seit Dienstag ein hochrangiger Vertreter der kommunistischen Tschechoslowakei vor Gericht und muss sich für Todesfälle am Eisernen Vorhang verantworten. In seiner Amtszeit als Innenminister zwischen 1983 und 1988 starben acht Menschen an der Grenze, darunter DDR-Bürger, die über die Tschechoslowakei fliehen wollten.
Laut Anklage habe Vajnar drei Todesfälle sowie in drei weiteren Fällen Verletzungen mitverantwortet. Des Weiteren wird Vajnar Amtsmissbrauch vorgeworfen. Als Innenminister hätte er versuchen müssen, das Grenzregime zu ändern. „Er hätte diese Maßnahmen ergreifen können und wusste gleichzeitig, dass die ČSSR an den Zivilpakt der Vereinten Nationen gebunden war, der nicht nur das Recht auf Leben beinhaltete, sondern auch das Recht, jedes Land zu verlassen“, so die Staatsanwaltschaft.
Fünf der Getöteten oder Verletzten waren Ostdeutsche, der sechste ein tschechoslowakischer Staatsbürger. Laut dem Anwalt Lubomír Müller handele es sich um den ersten derartigen Fall, der bis vor Gericht gelangt ist. Müller vertritt im Hauptverfahren die Mutter und die Schwester von Hartmut Tautz aus Magdeburg, der 1986 als 18-Jähriger beim Fluchtversuch über die tschechoslowakisch-österreichische Grenze in der Nähe von Preßburg (Bratislava) von Grenzschutzhunden angegriffen wurde und später seinen Verletzungen erlag, sowie einen Deutschen, der an der Grenze bei Eger (Cheb) ebenfalls von einem Grenzhund verletzt wurde. Zu den weiteren Todesopfern, deren Fälle vor Gericht verhandelt werden, zählen der westdeutsche Rentner Johann Dick aus Amberg, der beim Wandern auf deutschem Gebiet erschossen wurde, sowie František Faktor aus Tschechien, auf österreichischem Boden angeschossen wurde und anschließend starb. Die Opfer fordern Entschädigungen in Höhe von bis zu 500.000 Tschechischen Kronen (ca. 21.260 Euro).
Zweifel am Gesundheitszustand des Angeklagten
Der heute 92-jährige Vajnar war bei der Verhandlung am Dienstag nicht anwesend und ließ sich aus gesundheitlichen Gründen entschuldigen. Richterin Kateřina Rybáková erklärte, dass sie seine Anwesenheit nicht für erforderlich halte. Sie las Vajnars frühere Polizeiaussage vor, in der er erklärte, dass er keine Informationen über einzelne Vorfälle an der Grenze habe, weil diese Angelegenheiten von seinem Stellvertreter behandelt worden seien.
Vajnars Anwältin ist der Ansicht, dass ein Strafverfahren aufgrund des Gesundheitszustands des Mandanten nicht mehr zulässig sei und forderte ein neues ärztliches Gutachten. Die Richterin stimmte dem zu und beauftragte die psychiatrische Klinik Bohnice sowie das Krankenaus „Na Homolce“ mit der Ausstellung eines aktualisierten Gutachtens, das dem Gericht nach drei Monaten vorliegen muss. Am 15. September soll die Verhandlung fortgesetzt werden.
Die Strafanzeige gegen Vajnar wurde vor mehr als fünf Jahren von der „Plattform für das Gedenken und Gewissen Europas“ eingereicht. Die Anklage wurde wegen einer psychischen Störung Vajnars zunächst eingestellt, das Verfassungsgericht hob diesen Schritt jedoch vor Kurzem auf.
Ermittlungen gegen weitere Kommunisten
Auch der ehemalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Miloš Jakeš, und der frühere kommunistische tschechoslowakische Premierminister Lubomír Štrougal waren zuvor angeklagt worden. Sie starben aber noch vor der Urteilssprechung. Der ehemalige Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, der 95-jährige Jan Fojtík, kann wegen einer psychischen Störung nicht strafrechtlich verfolgt werden. Aus dem gleichen Grund hatte die Polizei die Anklage gegen Vajnars Nachfolger als Innenminister, František Kincl, fallen lassen.