Die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament werden richtungsweisend sein: Quo vadis, Demokratie?
In vielen EU-Mitgliedsstaaten – allen voran der Tschechischen Republik und der Slowakei – waren es zuletzt historische Wahlen mit der niedrigsten Wahlbeteiligung der Geschichte. Das Einzige, was rund um die Wahlen zum Europaparlament diskutiert wurde, waren die Gehälter der Europaabgeordneten, die aus Sicht der Bürger eines postkommunistischen Staates in Mitteleuropa geradezu astronomische Höhen erreichten. Aber: Dass dies doch eigentlich viel mehr über die Misere unserer heimischen Löhne aussagt und die Tatsache, dass die EU-Abgeordnetengehälter auch ständiges Reisen, ein Leben jenseits der Heimat und ein viel höheres Arbeitspensum als bei unseren heimischen Parlamentariern kompensieren müssen – das alles wurde in den Medien der postkommunistischen Welt selbstverständlich nicht thematisiert.
Das Straßburger bzw. Brüsseler Parlament wird hier vielmehr als ein luxuriöses Abstellgleis ausgedienter Politiker angesehen, von dem es – ähnlich wie in einem Hospiz – praktisch keinerlei Chance auf Rückkehr in die heimische Politik mehr gibt. Der Fall des polnischen Präsidenten Andrzej Duda, der allerdings eher mithilfe des Strippenziehers im Hintergrund, Jaroslaw Kaczynski, Staatsoberhaupt wurde, ist dabei vielmehr die Ausnahme, die die Regel bestätigt.
Brüssel heute wie Wien früher
In Tschechien kehrt man in seiner Beziehung zum Europaparlament derweil zu einem mehr als hundertjährigem Archetypus des Wiener Parlaments zurück, zum Parlament der konstitutionellen Monarchie Cisleithaniens, als die tschechischen Gesandten entweder in Wien als Aufrührer oder zuhause als Verräter galten. Jedweder konstruktive Ansatz zur Unterstützung eines vernünftigen Regierens war so von vornherein ausgeschlossen. Wien und all das, was dort entstand, wurde schon damals eher als ein Diktat begriffen. Später wurde dieses Verhältnis dann durch den Erfolg des wunderlichen tschechoslowakischen Mythos über das dreihundertjährige Leiden der Tschechen unter Habsburg ausgeschmückt. Dabei litten sie damals wahrscheinlich wie heute, als im Land ähnlich wie am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts die größte Blütephase des tschechischen Volkes und der tschechischen Länder insgesamt anbrach. Und da nun 15 Jahre nach Beginn der „Übermacht“ Brüssels über Prag eine ähnlich goldene Zeit die Tschechische Republik und ein neues Europa ereilte. Was natürlich überhaupt nicht verhindert, dass die Tschechen auf die EU und Brüssel letztlich gar noch mehr schimpfen als damals auf die Monarchie. Besonders seit nach so ehrwürdigen und weitsichtigen Präsidenten wie T.G. Masaryk und Václav Havel solche Leute wie Václav Klaus und Miloš Zeman an die Macht kamen.
Im tschechischen Kontext ist die wichtigste Frage der Europa-Wahlen, wer überhaupt kandidieren wird und ob es dem tschechischen Premier Andrej Babiš und seiner populistischen Partei ANO gelingen wird, sich dabei als eine Dominante der politischen Szene zu zementieren. Mit Blick auf die 15 bis 20 Prozent der Wahlberechtigten, die wohl überhaupt ihre Stimmen abgeben werden, ist das keinesfalls vorhersehbar. Es ist vielmehr ein Test der verantwortungsbewusstesten demokratischen Wähler, die schon zu den Senatswahlen gegangen waren. Jenen Wahlen, in denen Babiš und seine ANO bislang übrigens noch nicht einmal wirklich überzeugend gewinnen konnten. Dieser kleinere Teil der Tschechen, dem die Mitgliedschaft der Tschechischen Republik in der Europäischen Union wichtig ist, muss sich nun gut überlegen, ob es überhaupt sinnvoll ist, extra zu den Europawahlen aufzurufen. Denn dann könnte es auch passieren, dass auch eine größere Zahl Anhänger extremistischer Parteien mit Svoboda a přímá demokracie (Freiheit und direkte Demokratie, SPD) von Tomio Okamura an der Spritze abstimmen wird, deren Ziel es ist, Tschechien aus der EU herauszuführen.
Es geht um die Demokratie!
Im europäischen Kontext ist die wichtigste Frage, in welchem Maße Parteien wie der tschechischen SPD ein Erfolg gelingt und inwiefern sie zusammenarbeiten werden. Damit verbunden steht auch die Frage im Raum, ob sich eine Partei ähnlich der Fidesz des ungarischen Premiers Viktor Orbán oder Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) um den Polen Jaroslaw Kaczynski jenseits des nicht extremistischen Stromes bleibt oder sich ihm letztlich doch anschließt. Am Ende könnte die grundlegende Problematik der Europäischen Union in den nächsten Jahren nicht mehr Migration, Terrorismus oder zu hohen Schulden einiger Mitgliedsstaaten sein, sondern: Was soll mit Ländern passieren, die aufhören, demokratische Rechtsstaaten zu sein? Also genau das, was schon seit Langem über das Ungarn Orbáns oder das aktuelle Polen diskutiert wird.
Das Europäische Parlament kann dabei eine durchaus wichtige Schlüsselrolle spielen. Orbán droht bereits tatsächlich, wenn PiS in den polnischen Sejm-Wahlen im Herbst eine Niederlage erleidet, der Verlust der polnischen Unterstützung. Das könnte in Richtung einer Aussetzung der EU-Mitgliedschaft Ungarns führen. Wenn diese Sicherung fallen sollte, bleibt Orbán nur noch die Hoffnung darauf, dass sich im Europa-Parlament keine klar proeuropäische und prodemokratische Mehrheit bildet. Womöglich dank einem Erfolg der Fidesz, PiS, der italienischen Liga, den französischen Anhängern Marine Le Pens sowie der deutschen AfD.
Darum geht es bei den Wahlen zum Europaparlament im Mai nicht nur darum, ob die Europäische Union eine funktionierende Gemeinschaft bleibt, sondern darum ob sie langfristig eine Gemeinschaft demokratischer Rechtsstaaten bleibt. Also, ob sie überhaupt ihre wichtigste Existenzberechtigung behält, dem Bekenntnis zu den Werten Demokratie, Freiheit.
Der Autor ist Redakteur des tschechischen Nachrichtenportals Deník.
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