Lieselotte Procházková erlebte als Kleinkind die Vertreibung der Deutschen aus dem Egerland. Ihre Familie durfte aber bleiben. Heute ist sie engagiertes Mitglied des Deutschen Kulturvereins Region Brünn.
Regen prasselt an die Scheibe, als Lieselotte Procházková das Tablett auf den Tisch stellt. Der Raum im Begegnungszentrum Brünn (Brno) liegt im Halbdunkeln, alte Bücher stehen dicht an dicht in den Regalen, Goethe und Schiller hängen an der Wand und schauen stumm in den Raum, der vom Duft von Kaffee erfüllt ist. „Dieser Sommer ist seltsam“, sagt Liselotte Procházková, auch Lotte genannt, streicht behutsam über die vor sich liegenden Schriftstücke und blickt aus dem Fenster. „Einen Tag scheint die Sonne, den nächsten Tag regnet es.“ Sie breitet die Dokumente aus, reicht abwechselnd Geburtsurkunden, Fotos und Behördenbriefe und beginnt zu erzählen, berichtet aus einem Leben, das ähnlich wechselhaft verlief wie diese Sommermonate in Brünn.
Staatenlos im neuen Staat
Lieselotte Reiprich wird im Juni 1944 in Liehn (Líně) bei Pilsen geboren. Ein Jahr später endet der Zweite Weltkrieg, alle Deutschen werden ausgebürgert und müssen das Land verlassen. Lottes Vater Franz Reiprich aber soll bleiben. Er ist Bergmann und sein Fachwissen in der vom Krieg gebeutelten Tschechoslowakei unabdingbar. Die Familie, auf der Straße nunmehr durch eine schwarze Armbinde mit großem weißem N für alle als „Němci“ – Deutsche – erkennbar, muss ihr Haus gegen ein kleines Zimmer im Nachbarort eintauschen. Die Familie kann vorerst bleiben, wäre da nicht die Sorge um die Großmutter: Im jungen Beneš-Staat ist für die Alten kein Platz. Lieselottes Großmutter soll ausgewiesen werden, da wendet sich Vater Franz an das Innenministerium in Prag. Unter der Bedingung, dass er den Unterhalt für seine Schwiegermutter übernimmt, wird die Ausweisung ausgesetzt. Die Familie kann zusammenbleiben.
Ein neues Leben in der Tschechoslowakei
1950 bekommen die Reiprichs die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft zurück und ziehen in eine neu errichtete Siedlung für Bergarbeiter. Allmählich finden sie ihren Platz in der neuen Gesellschaft. Lotte geht zur Schule und bekommt auf ihre tschechischen Aufsätze bald bessere Noten als ihre Mitschüler, und doch: Zuhause bleibt die Verkehrssprache Deutsch, genauer gesagt: Egerländisch. Dass man in Gesellschaft besser Tschechisch spricht, wenn man denn nicht als „Faschist“ beschimpft werden will, ist dem Kind da längst bewusst. „Für meine Eltern war das alles natürlich schlimm“, erzählt Lieselotte, „aber ich kannte es ja gar nicht mehr anders.“
Prager Frühling auch für die Sudetendeutschen
Und doch: Zu Beginn der 1960er Jahre schöpfen auch die heimatverbliebenen Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei Hoffnung. „Plötzlich konnte man über Themen sprechen, die vorher tabu waren“, erinnert sich Lieselotte, und meint etwa die Vertreibung der Deutschen in den Nachkriegsjahren. Die Dinge schienen sich zum Besseren zu wenden.
Die Invasion der Truppen des Warschauer Paktes beendet diese Phase jäh. Aber das Leben ging weiter. Lotte heiratet und zieht mit ihrem Mann nach Mähren. Auch in der Familie wird ihr der Makel ihrer Herkunft aufgezeigt. „Mein Schwiegervater war Stalinist der ersten Stunde“, erklärt sie. Die Heirat des Sohnes mit einer „Faschistin“ findet daher nur wenig Zuspruch. „Andererseits hatte mein Mann ein denkbar schlechtes Verhältnis zu seinem Vater. Vielleicht hat er extra eine Deutsche heiraten wollen, um seinem Vater eins auszuwischen“, sagt Lieselotte mit einem Schmunzeln.
Neuanfang nach 1989
Nach der Samtenen Revolution ergeben sich völlig neue Möglichkeiten. „Wir waren wie neu geboren“, erinnert sich Lieselotte. „Plötzlich konnten wir Deutschen uns wieder organisieren.“ Themen, die vor der Ära Havel totgeschwiegen wurden, werden plötzlich offen diskutiert. „1991 habe ich das erste Mal gehört, was nach dem Krieg in Postelberg und Aussig geschehen ist“, sagt Lieselotte Procházková und meint die Massaker an der deutschen Zivilbevölkerung, bei der nach Schätzungen mehrere hundert Menschen ums Leben gekommen sind.
Seitdem sind drei Jahrzehnte ins Land gegangen. „Heute sind wir zufrieden“, bilanziert Lieselotte. „Wir haben unser BGZ, unseren Verein, wir treffen uns mit anderen Deutschen aus Tschechien. Wir wussten ja früher gar nicht, wo es überall Deutsche gibt. Wir haben sogar unsere deutschsprachigen Zeitschriften. Was hätte meine Mutter darum gegeben, einmal ein Kreuzworträtsel auf Deutsch lösen zu können.“
Oft fährt sie nach Auherzen (Úherce u Nýřan) bei Pilsen, um das Familiengrab zu pflegen. Für sie eine Herzensangelegenheit, die sie von ihrer Mutter übernommen hat. Auch dies ist ein Teil ihrer Identität. „Ich fühle mich als Deutsche“, verkündet sie, „Sudentendeutsche aus Böhmen natürlich, keine Mährerin“. Und doch ist es mit dem Deutsch ein bisschen schwierig: „Mit meinen Kindern habe ich kaum noch Deutsch gesprochen.“ Ein Fehler, wie Lieselotte rückblickend zugibt. „So war es damals aber einfacher.“ Und wie ist das mit dem Egerländischen? „Das spricht ja kaum noch jemand, Egerländisch rede ich nur noch mit meinem Kater Moris.“ Und wenn ihr beim Kochen mal ein Ei runterfällt? „Jesus Maria, dann auch!“, lacht Lieselotte, „Aber das darf mir natürlich nicht passieren.“
Dieser Beitrag entstand im Rahmen der vom ifa geförderten Medienwerkstatt „Geschichten vom Gehen und vom Bleiben“ vom 4. bis 6. August in Brünn, die das LandesEcho gemeinsam mit dem Karpatenblatt organisierte.
Dieser beitrag erschien zuerst in der landesecho-ausgabe 9/2023
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