Die Journalisten Werner Sonne und Thomas Kreutzmann stellten am 20. März in der Deutschen Botschaft in Prag ihr Buch „Schuld und Leid – Das Trauma von Flucht und Vertreibung 1945-2022“ vor.
Veranstalter der Lesung waren die Landesversammlung der deutschen Vereine und die Stiftung „Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland“. Ausrichtungsort war der Kuppelsaal im Palais Lobkowicz, Sitz der Deutschen Botschaft Prag. Eine passende Kulisse für das Thema des Abends, schließlich verkündete Hans-Dietrich Genscher im Spätsommer 1989 auf dem Balkon dieses Saals mehreren Tausend Flüchtlingen aus der DDR, dass sie in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen durften. Ein denkbar geeigneter Ort, um über Flucht und Vertreibung sowie den öffentlichen Umgang mit der Leidensgeschichte von Vertriebenen zu sprechen.
Dieses Mal sollte es vor allem um die Vertreibung der Deutschen aus Polen und Tschechien am Ende des Zweiten Weltkriegs gehen, insbesondere um die Frage, wie man ihres Leids vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen gedenken solle. Dies ist auch das Hauptaugenmerk des Buches von Sonne und Kreutzmann, das sich vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges fragt, ob man an das Leid der Millionen Vertriebenen von 1944/45 ebenso erinnern dürfe wie an das der Opfer der Nationalsozialismus.
Die Zeitenwende – auch in der deutschen Erinnerungskultur?
Tatsächlich bedeutet der Krieg in der Ukraine, der die größte Fluchtbewegung in Europa seit 1945 ausgelöst hat, für die Autoren auch eine Zäsur in der deutschen Erinnerungskultur. Die von Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ bedeute nicht nur eine Abkehr vom bundesrepublikanischen Pazifismus, sondern werfe auch die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Vertreibungsgeschichte auf, jetzt, wo die Bilder von Millionen Ukrainern auf der Flucht das Thema einmal mehr ins Bewusstsein gerufen haben. Nicht zuletzt das lange Ringen um das Dokumentationszentrum „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin zeige, wie schwierig der Umgang mit diesem Thema noch immer sei.
Ein gelassenerer Umgang
Gemeinsam mit der Abgeordneten und ehemaligen Beauftragten für nationale Minderheiten, Helena Válková (ANO), und dem Historiker Matěj Spurný diskutierten die Autoren deshalb insbesondere über die Entwicklung der deutschen und der tschechischen Erinnerungskultur. In der einhelligen Meinung des Plenums war in den letzten zwei Jahrzehnten eine Entspannung in der Debatte zu beobachten, die zuvor von den Retributionsforderungen insbesondere der sudetendeutschen Vertriebenenverbände auf der einen Seite und einer sehr zögerlichen Aufarbeitung der gewaltsamen Vertreibung und Ermordung der Deutschen in der Tschechoslowakei auf der Seite der Tschechen geprägt war. Helena Válková vermerkte allerdings, dass dieses Thema in der tschechischen Politik neben einigen populistischen Ausfällen gegen die Sudetendeutschen gerne totgeschwiegen werde. Matěj Sputný dagegen betonte das wachsende Interesse, insbesondere unter jungen Tschechen, an der Geschichte der Deutschen in der Tschechoslowakei. In diesen Rahmen fällt unter anderem die Gründung des Vereins „Antikomplex“ im Jahr 1998, der die kritische Auseinandersetzung mit der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg zur Aufgabe hat. Befragungen der tschechischen Zivilbevölkerung würden zudem einen deutlichen Anstieg des Anteils der Tschechen zeigen, die die gewaltsame Vertreibung der Deutschen als kritisch bewerten. Läge dieser in den neunziger Jahren noch unter zehn Prozent, so hätten Umfragen im Jahr 2020 ergeben, dass inzwischen gut ein Drittel der Tschechen den Umgang mit der deutschen Bevölkerung in der Vergangenheit als problematisch beurteilten.
Auf der deutschen Seite strich etwa die Sudetendeutsche Landsmannschaft im Jahr 2015 ihre Restitutionsforderungen aus ihrem Programm. Im Allgemeinen wurden die Stimmen, die einen Ausgleich für die Vertreibung und Ermordung von Deutschen in der Tschechoslowakei forderten, deutlich weniger und leiser. Andererseits vermehrten sich die Bemühungen, etwa mit dem Dokumentationszentrum „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, Orte zu schaffen, um dem Schicksal der Vertriebenen zu gedenken.
Übersetzung ins Tschechische angedacht
Die Entwicklung der Erinnerungskultur in beiden Ländern ist jedoch noch nicht abgeschlossen, wie zum Beispiel die populistische Vereinnahmung der Problematik von deutscher wie von tschechischer Seite zeigt. Die Diskussionsteilnehmer sprachen sich deshalb auch für eine Übersetzung des Buchs ins Tschechische aus. Eine polnische Version ist bereits in Arbeit.