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An der Quelle des Brutalismus – Ahoj aus Prag!

Gebäude des Verbands der Projektateliers (Budovy Sdružení projektových ateliérů). Foto: Detmar Doering

Prag – das ist nicht nur Altstadt. Es ist auch ein Paradies für diejenigen, die den in den 1960er/1970er Jahren in Ost und West aufkommenden Architekturstil lieben, der kühne Konstruktionen in Stahl, rohem Beton und Glas formte, und den man heute liebevoll Brutalismus nennt.

Wenn man herausfinden will, wo der Brutalismus in Prag seinen Ursprung hatte, dann fange man mit der Suche bei den Gebäuden des Verbands der Projektateliers (Budovy Sdružení projektových ateliérů) in der Vyšehradská 2075/51 an, die sich in der Neustadt, ganz nahe beim Karlsplatz und dem mittelalterlichen Emmauskloster, befinden.Foto: Detmar Doering

In den 1960er Jahren hatte sich das kommunistische Regime so gefestigt, dass man sich Lockerungsübungen zutraute. Zu den Betonköpfen durften sich nun vorsichtig einige Avantgardisten gesellen, die abseits der stalinistischen Vorgaben kreative Projekte in Sachen Stadtplanung realisieren wollten. Designer und Architekten mussten sich allerdings in dem 1948 (dem Jahr der Machtübernahme der Kommunisten) gegründeten staatlichen (Einheits-)Verband Stavoprojekt (Bauprojekt) als Zwangsmitglieder organisieren. Dort war man immer noch recht eingeengt, und so wagten 1966 einige Reformer die Gründung einer neuen Dachvereinigung, eben des Verbands der Projektateliers. Weil es ihr Metier war und sie ein Beispiel für ihr Können liefern wollten, nahmen sie schon 1967 den Bau eines eigenen Gebäudes für Architekturbüros in Angriff. Die Pläne dazu entwickelten die beiden späteren Stararchitekten Karel Prager und Jiří Kadeřábek.

Das Resultat sieht man heute. Es handelt sich um drei aus Rechteckformen zusammengesetzte, ineinandergreifende vierstöckige Gebäude. Dafür verwendete man eine vom Architekten und Designer Ladislav Richtr entworfene Stahlkonstruktion aus I-Trägern, die speziell für das Gebäude von den Stahlwerken Vítkovice in Friedeck-Mistek (Frýdek-Místek) hergestellt wurden. In diese Konstruktion wurden die von Prager gestalteten Hängefassaden aus viel Glas und Stahl eingepasst. Die oberen Stockwerke ragen auf Kragträgern freitragend weit über den Sockelbau hervor, was auch heute noch ausgesprochen kühn konstruiert wirkt. Ursprünglich waren vier Gebäude geplant, aber 1968 wandelten sich die Zeiten, als die Armeen des Warschauer Pakts den Prager Frühling gewaltsam beendeten. 1969 konnte eines der Architektenbüros (Karel Pragers Atelier Gama) schon provisorisch einziehen. Der vierte Block wurde aber gestoppt. Als der Gebäudekomplex 1973 fertiggestellt und 1974 eröffnet wurde, war der bis dato recht unabhängig agierende Verband der Projektateliers schon längst in das städtische Projektinstitut für Bauwesen (Projektový ústav výstavby Prahy) integriert, das 1971 eingerichtet wurde.

Foto: Detmar DoeringDa es aber auch in den Zeiten der repressiven Normalisierung kein Zurück in die Zeiten des stalinistischen Zuckerbäckerstils gab und die Kommunisten eine „progressive“ Fassade wahren wollten, wurden dennoch viele moderne Projekte weitergeführt und realisiert. Prager, Kadeřábek, Věra und Vladimír Machonin, Jan Šrámek, Karel Filsak und etliche andere Modernisten arbeiteten im Projektinstitut mit und 1972 durfte Prager sogar das neue Parlamentsgebäude (heute Neues Gebäude des Nationalmuseums) entwerfen. Tatsächlich fing erst in den späteren 1970er Jahren die Architektur des Brutalismus in Prag an, so richtig an Boden zu gewinnen.

Und das passend gestaltete Gebäude in der Vyšehradská war so etwas wie die Keimzelle des Ganzen. Um die Kreativität der Designer, Planer und Architekten zu anzuregen, legte man um das Gebäude sogar einen kleinen Park mit viel Grün an. Die Zeit des Brutalismus (nicht die der Kreativität) neigte sich allerdings Mitte der 1980er Jahre dem Ende entgegen und kurz darauf war es 1989 auch mit dem Kommunismus vorbei. Und damit auch mit dem Projektinstitut, das 1990 aufgelöst wurde. Heute residiert hier neben einigen kleineren Planungsbehörden und einigen Mietbüros vor allem seit 2017 das Zentrum für Architektur und Stadtplanung (Centrum architektury a městského plánování, auch CAMP genannt), eine Art Nachfolgeorganisation des Verbandes der Projektateliers, in dem avantgardistisches Denken selbstredend eine (auch politisch gefahrlose) Selbstverständlichkeit ist.Foto: Detmar Doering

Der Gebäudekomplex liegt ein wenig eingezwängt zwischen dem Kloster und einem Häuserblock an der vom Karlsplatz wegführenden Na Moráni, der noch aus dem späten 19./frühen 20. Jahrhundert stammt. Der wäre abgerissen worden, hätte man den vierten Block des Projektgebäudes realisiert. Insbesondere zum Kloster bildet das Ganze den maximalen ästhetischen Kontrast, aber man hat die Höhenproportionen immerhin so bemessen und angepasst, dass die mittelalterliche Anlage nicht dominiert und optisch unterjocht wird.

Zudem ist es in diesem Sinne für das ästhetische Zusammenwirken der beiden Gebäude fast ein „Glücksfall“, dass der Turm der Klosterkirche in den 1960er Jahren im modernen Stil wiedererbaut wurde, nachdem er 1945 einem Bombenangriff zum Opfer gefallen war. Bei Sonnenlicht spiegelt sich der neue Turm dekorativ in der Glasfassade des Projektatliers.

Natürlich kam ein für Kreative entwickeltes Gebäude nicht ohne Kunst am Bau aus. Hier kommt übrigens das Lieblingsmaterial aller Brutalisten, der Rohbeton, eher zum Tragen als bei dem äußerlich mehr durch seine Glasfassaden auffallenden Gebäude selbst. Das fängt mit dem abstrakt bemusterten Reliefband an, das die Sockel der drei Hauptgebäude und die gleich hohen Dachränder der verbindenden Zwischengebäude umläuft. Sie sind ein Werk des bekannten akademischen Bildhauers Miloslav Hájek, einem Schüler des an der Akademie für Kunst, Architektur und Design Prag (Vysoká škola umělecko-průmyslová) lehrenden Bildhauers Josef Wagner.

Wagner, obwohl als eher klassischer Realist kein „Brutalist“, hatte auch noch einen anderen Schüler, der an der künstlerischen Ausgestaltung der Projektateliers mitwirkte – und dies con gusto im Sinne des Brutalismus. Miloslav Chlupáč stellte 1972 vor dem Gebäude auf Seite der Vyšehradská eine Art Grundstücksmauer oder -zaun (wer kann so etwas bei moderner Kunst erkennen?) auf.Foto: Detmar Doering

Palisaden (palisády) heißt das aus gegeneinander verschobenen, schräg positionierten Rohbetonpfeilern bestehende Mauerwerk, in dessen Zwischenräumen sich seltsame (geradezu organisch wirkende) Ausbeulungen befinden. So etwas wäre damals auch im Westen „state of the art“ gewesen, muss man neidlos zugeben.

Vor Chlupáčs Palisaden wird einem endgültig bewusst, dass man sich bei diesem Ort an der wahren Quelle des Brutalismus (und, das sei der Fairness halber gesagt, anderer avantgardistischer Stilrichtungen) in Prag befindet. Ein „must“ für die Freunde von Glas und rohem Beton!

 

Zuerst erschienen auf Ahoj aus Prag.


Ahoj aus PragAhoj aus Prag! Seit September 2016 leben wir berufsbedingt in Prag. Wir – eigentlich Rheinländer – haben sie schon voll in unser Herz geschlossen, diese Stadt! Deshalb dieser Blog, in dem wir Fotos und Kurzberichte über das posten, was diese Stadt so zu bieten hat und was wir so erleben. Wir, das sind:

Lieselotte Stockhausen-Doering und Detmar Doering

… und unser Hund Lady Edith! Wer sich in Prag einmal umschauen möchte, wird auf diesem Blog nach einiger Zeit sicher Interessantes finden, was nicht jeder zu sehen bekommt, der die Stadt besucht. Viel Spaß beim Lesen!

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