80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa erinnert unser Autor Luboš Palata an die Befreiung der Tschechoslowakei – nicht durch Russland, sondern durch die Sowjetunion und ihre vielen Völker.
Der Zweite Weltkrieg und die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes unter Adolf Hitler waren das Schrecklichste, was Europa seit den mongolischen Einfällen und vielleicht manchen Phasen des Dreißigjährigen Krieges erlebt hat.
Der Höhepunkt der nationalsozialistischen Grausamkeit war der Plan zur Auslöschung ganzer Völker, der nur deshalb nicht vollständig umgesetzt wurde, weil das Hitler-Regime lediglich zwölf Jahre bestand. Beginnen konnte dieser Plan lediglich mit dem Holocaust an den Juden und den europäischen Roma. Das Verhalten der Nationalsozialisten in Osteuropa, beginnend mit Polen, unterschied sich von diesen abscheulichsten Praktiken etwa so, wie tiefstes Schwarz sich vom Druckerschwarz unterscheidet.
Zwar litten die Tschechen am längsten unter der nationalsozialistischen Besatzung aller von Hitler unterworfenen europäischen Völker, standen jedoch auf der Liste der zur Vernichtung bestimmten Nationen vergleichsweise weit unten. Dennoch war die Besatzung auch hier schrecklich. Die Tschechen verloren durch das nationalsozialistische Wüten nicht nur ihre stark in die tschechische Nation eingebettete jüdische Minderheit, sondern auch einen großen Teil ihrer demokratischen und intellektuellen Eliten – buchstäblich ihre besten Männer und Frauen. Das Überleben wurde mit gebeugtem Rückgrat und Schande bezahlt.
Tschechische Rache und russische Aggression
Während der Großteil Europas bereits befreit war, befand sich auf dem Gebiet der damaligen Tschechoslowakei noch immer eine millionenstarke Wehrmacht mit zahlreichen Eliteeinheiten. Die ersten Maitage 1945 verwandelten die Nationalsozialisten in ein Blutbad, eine Art Rache für die Niederlage. Was darauf folgte, war hingegen tschechische Rache – nicht nur an SS-Männern und Soldaten, sondern oft auch an wehrlosen deutschen Zivilisten. Eine Rache, die zur dunkelsten Episode der modernen tschechischen Geschichte wurde. Die eigentliche Vertreibung war, nach Monaten der Morde an Deutschen durch Tschechen, nur noch ein Nachspiel, dem ein weitaus schlimmeres Vorspiel vorausging.
Es ist eine traurige Tatsache, dass es tschechischen Politikern in achtzig Jahren nicht gelungen ist, jenen Teil der Beneš-Gesetzgebung von 1946 abzuschaffen, der die Mehrheit der Morde und Verbrechen an Deutschen und Ungarn bis Ende Oktober 1945 straffrei stellte.
Nach acht Jahrzehnten tobt in Europa der erste zwischenstaatliche Krieg größeren Ausmaßes. Vor über drei Jahren griff das Putinsche Russland die Ukraine an und besetzt inzwischen etwa ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets. Russland hat während seiner Aggression zahlreiche Kriegsverbrechen an ukrainischen Soldaten und Zivilisten begangen und begeht sie weiterhin. Statt eines Endes in Form der Niederlage des Aggressors und seiner Bestrafung zeichnet sich ein abscheulicher „trumpistischer“ Frieden ab, der stark an das Münchner Abkommen von 1938 erinnert.
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Mehr…Nicht Russland, sondern die UdSSR hat Tschechien befreit
Russland, das sich selbst in der Nachfolge der Sowjetunion sieht, wird auch in diesem Jahr eine abscheuliche Siegesparade auf dem Roten Platz abhalten, angeführt von dem international gesuchten Kriegsverbrecher Wladimir Putin. An seiner Seite auf dem Roten Platz zu stehen, wie es zum Beispiel der slowakische Premierminister Robert Fico plant, hat nichts mit dem Gedenken an die Rotarmisten zu tun, die im Kampf gegen die Nazis bei der Befreiung Mitteleuropas gefallen sind.
Denn einen wesentlichen Anteil an der Befreiung hatten auch ukrainische Soldaten der Roten Armee, und an der Spitze der Sowjetunion stand ein Georgier, J.W. Stalin. Und den Nationalsozialismus besiegten nicht die Russen, sondern die UdSSR und die Völker der damaligen Sowjetunion – zusammen mit den westlichen Alliierten.
Deshalb sollten die Tschechen bei der Erinnerung an den 80. Jahrestag der Befreiung als Reaktion auf Putins Umschreiben der modernen Geschichte nicht selbst mit Tatsachenverdrehungen antworten und das Kriegsende nicht ausschließlich als Befreiung der tschechischen Länder durch die US-Armee darstellen. Die Amerikaner haben tatsächlich den Westen des heutigen Tschechiens befreit. Das trug dazu bei, dass sich etwa ein Jahr später alle fremden Armeen, einschließlich der sowjetischen, aus der Tschechoslowakei zurückzogen und das Land für zwanzig Jahre zur einzigen von der sowjetischen Armee nicht besetzten Nation Mitteleuropas wurde. Dass sich die Tschechen dann 1946 bei nahezu freien Wahlen als einziges Volk der Welt Kommunisten an die Spitze wählten – damals bereits jahrelang von Moskau gesteuert –, ist ein anderes Kapitel. Genauso wie die sowjetische Okkupation im August 1968.
Jetzt aber gedenken wir des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa im Mai 1945, des Sieges über den Nationalsozialismus. Ein Sieg, an dem die sowjetische Armee maßgeblichen Anteil hatte – in unserem Teil Europas sogar den entscheidenden. Es war jedoch eine Armee, in der Russen, Ukrainer, Belarussen und viele weitere Völker der UdSSR kämpften. Ihnen halfen zudem auch Armeen der Tschechoslowakei, Rumäniens oder Polens.
Trotz aller Schattenseiten – angefangen bei der Rache an den Deutschen bis hin zur Deportation tschechischer Bürger russischer, ukrainischer und anderer Nationalitäten in Gulags und Gefängnisse – waren es im Jahr 1945 vor allem Tage der Befreiung, des Friedens und der Hoffnung. Danken wir jenen, die uns Tschechen diese Hoffnung und diesen Frieden brachten. Und vor allem jenen, die in gutem Glauben ihr Leben dafür ließen – insbesondere den sowjetischen Soldaten.
Der Autor ist Europa-Redakteur der Tageszeitung Deník
Dieser beitrag erschien zuerst in der landesecho-ausgabe 5/2025
Das neue LandesEcho 5/2025 ist da!
In unserer Mai-Ausgabe gehen wir der Frage nach, was Tschechien zu einem Land für Burgenliebhaber macht, berichten über das Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs und wir spüren der Rolle der Kirche in Mittelosteuropa nach. Daneben viele weitere Themen rund um Tschechien und die deutsche Minderheit.
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