Eine neue Krimi-Serie bahnt sich an: „Die Schatten von Prag“ nimmt Leserinnen und Leser mit ins Prag des Jahres 1910.
„Die Schatten von Prag“ heißt der erste Teil einer Prager Krimi-Serie des kanon Verlags aus Berlin. Im Mittelpunkt des 310 Seiten umfassenden Romans von Martin Becker und Tabea Soergel stehen der Lokalreporter Egon Erwin Kisch und die Medizinstudentin Lenka Weißbach, die im Prag des frühen 20. Jahrhunderts in einer Mordserie ermitteln.
Ausflug in die Prager Unterwelt
Lenka ist am Boden zerstört: Aus dem weltoffenen und progressiven Berlin geht es für die Medizinstudentin zurück ins konservative Prag, wo sich die junge Frau aus privilegiertem Hause um ihre älter werdende Mutter kümmern muss. Statt weiter Medizin zu studieren um in die Fußstapfen ihres verstorbenen Vaters zu treten, verschlägt es die Protagonistin in die Redaktion der „Bohemia“, einer Prager Lokalzeitung, wo die Medizinstudentin vom stadtbekannten Kriminalreporter Egon Erwin Kisch einen Job als Schreibkraft vermittelt bekommt. Es dauert nicht lange, bis die durchsetzungsstarke und rebellische Lenka, die lieber im Herrenmantel als im Kleid vor die Haustür tritt, an der Seite ihres Kollegen Kisch im Prager Nachtleben zu den Hintergründen einer Reihe von Suiziden ermittelt, die sich als Mordserie von internationalem Ausmaß entpuppt.
Vom abergläubischen Zöllner Novák, der die Nächte in seinem Zollhäuschen an der Franzensbrücke verbringt, bis zum pensionierten, lungenkranken Polizeichef Graef treffen Lenka und Kisch bei ihren Ermittlungen in den Kneipen und Bierstuben der tschechischen Hauptstadt auf die unterschiedlichsten Akteure im Prag des Jahres 1910, in dem Deutsche, Juden und Tschechen nebeneinander leben. Die Autoren Martin Becker und Tabea Soergel verweben historische Ereignisse, sowie real existierende Orte und Persönlichkeiten zu einem atmosphärischen und authentischen Gesamtbild, welches, einer Milieustudie gleich, Leserinnen und Leser zur Auseinandersetzung mit der diversen Gesellschaft Prags zu Beginn des 20. Jahrhunderts verleitet.
Historische Inspirationen
Die Ankunft des Halleyschen Kometen, der im Jahr 1910 die Menschen in Weltuntergangsstimmung versetzt, findet sich in „Die Schatten von Prag“ ebenso wieder wie Franz Kafka, dem Martin Becker und Tabea Soergel kurzerhand eine sympathische Nebenrolle verpassen. An den vor 140 Jahren geborenen „Bohemia“-Reporter und Schöpfer der „literarischen Reportage“ Egon Erwin Kisch, dem im Roman eine der beiden Hauptrollen zukommt, erinnert heute eine Gedenktafel an dessen Geburtshaus in der Melantrichgasse (Melantrichova) in der Prager Altstadt. „Wir haben uns vor Ort in den Prager Straßen herumgetrieben und Hunderte von Fotos gemacht, wir haben Lesezeichen in unseren Browsern hinzugefügt, die alles von der Lesbengeschichte im Deutschen Kaiserreich über die Sprachenverordnung in Böhmen und Mähren bis zur Geschichte des Hauspersonals in Österreich abdecken“, merken Martin Becker und Tabea Soergel im Nachwort ihres gemeinsamen Buches über die Arbeit an „Die Schatten von Prag“ an, dessen Universum sich trotz des Titels nicht zwangsläufig nur auf Prag beschränkt.
Es ist bemerkenswert, dass sich Becker und Soergel in ihrer Darstellung der Lebensrealität der Protagonistin Lenka auch in der Populärliteratur unterrepräsentierten Themen wie der Frauenbewegung und der Situation gleichgeschlechtlicher Paare zu Beginn des 20. Jahrhunderts widmen. So erfahren Leserinnen und Leser im Laufe der Ermittlungsarbeiten zum Beispiel immer wieder interessante Bruchstücke über Lenkas altes Leben in Berlin. „Einige der Fakten, die wir bei unserer Lektüre zutage gefördert haben, haben wir in diesem Buch verarbeitet, einige nicht. Die Ergebnisse unserer Recherche könnte man möglicherweise als historische Hintergrundstrahlung bezeichnen“, beschreiben Becker und Soergel ihr Rezept, das funktioniert und unterhält.
Gewagtes Finale
Die Story von „Die Schatten von Prag“ kommt qualitativ nicht an den hohen Maßstab heran, den Becker und Soergel hinsichtlich der historischen Authentizität ihres Romans setzen. Während Lenka und Kisch bei der Ermittlungsarbeit lange im Dunkeln tappen und mehr betrunken als nüchtern der Lösung ihres Falls entgegen stolpern, überschlagen sich zum Ende des Plots die Ereignisse. Der große Twist überzeugt nicht ganz: Die Motive der Strippenzieher hinter den Morden könnten mehr Tiefe vertragen und sind nicht immer vollständig nachvollziehbar. Dass Lenkas Berliner Vergangenheit sie im großen Showdown zur Kometennacht plötzlich einzuholen scheint, ist gewagt. Doch die erzählerische Schwäche verzeiht man dem Autorenteam, schließlich neigt auch der „rasende Reporter“ Kisch beim Schreiben seiner Artikel für die „Bohemia“ gerne mal zur Übertreibung – zugunsten des Überraschungseffekts. Das furiose und etwas unrealistische Finale von „Die Schatten von Prag“ lässt sich gutmütig als charmante Allegorie auf die Sensationslust des Protagonisten Kisch verstehen. Und immerhin legen Martin Becker und Tabea Soergel mit dem Ende der Geschichte bereits den Grundstein für einen zweiten Teil: „Die Schatten von Prag“ betitelt der kanon Verlag als „Auftakt einer neuen Krimi-Serie um Egon Erwin Kisch und Lenka Weißbach als Ermittlerduo“, dessen Fortsetzung Leserinnen und Leser von „Die Schatten von Prag“ mit Spannung erwarten dürften.
Fazit: Zu empfehlen!
Bei aller historischen Detailverliebtheit bleibt der Krimi aus der tschechischen Hauptstadt erfrischend leicht und unterhaltsam, sodass über kleine erzählerische Schwächen hinweg gesehen werden kann. Die Autoren kreieren diverse und größtenteils authentische Rollen, die zur Auseinandersetzung mit der deutsch-jüdisch-tschechischen Vergangenheit Prags und den Milieus einer Großstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts verleiten. In der Darstellung der Lebensrealität der Figuren der Prager Gesellschaft wagt sich das Autorenteam auch an komplexe gesellschaftspolitische Themen, die unaufgeregt mit der Biografie der Protagonisten verbunden werden. Fans der tschechischen Hauptstadt und Leserinnen und Leser auf der Suche nach einem unkonventionellen, historischen Kriminalroman sollten sich das Ermittlerduo Kisch und Weißbach in jedem Fall auf ihre Bücherliste setzen.