Unsere LandesBloggerin Natálie kommt gebürtig aus Říčany (auf Deutsch Ritschan), einer Stadt etwa 20 Kilometer südöstlich von Prag. Während eines Spaziergangs über den örtlichen Masaryk-Platz bemerkte sie Steine, die unauffällig in das Pflaster um den Platz eingelassen waren. Sie beschloss, sie genauer zu erkunden und die Erinnerung wieder ans Licht zu bringen. 

Mein Weg führt mich zu einem historischen Kiosk im Herzen des Platzes, der heute als Informationsstand dient. Schnell wird mir die Bedeutung der goldenen Stolpersteine klar: Sie mahnen uns, den Verlust der jüdischen Gemeinschaft in Říčany während des Holocausts nicht zu vergessen. Im Inneren des Kiosks bieten thematische Videos und Schautafeln tiefe Einblicke in das Leid der Opfer. Eine mitgenommene Broschüre weist mir den Weg zu den Stopps – insgesamt neun an der Zahl. 

Die Suche nach den Spuren von mehr als zehn Familien, die hier einst lebten, arbeiteten und träumten, führt mir die drastischen Veränderungen des Platzes vor Augen. In weniger als einem Jahrhundert hat sich das Gesicht des Platzes vollständig gewandelt: Anstelle von jüdischem Leben finden sich nun ein vietnamesischer Laden, ein chinesisches Restaurant und eine Bank. Die kaum wahrnehmbaren Steine unter unseren Füßen dienen als stille Zeugen einer grauenhaften Zeit, als das Leben unschuldiger Menschen einem barbarischen Regime zum Opfer fiel.

Die unscheinbaren Steine am unteren Bildrand vor dem chinesischen Restaurant zur Erinnerung an die Familie Strašnov. Foto: Natálie Marie Vaňková
Die unscheinbaren Steine am unteren Bildrand vor dem chinesischen Restaurant zur Erinnerung an die Familie Strašnov. Foto: Natálie Marie Vaňková

Plötzlich waren alle Weg

Einer der Steine hier erinnert an den kleinen Jungen Pavel Fišer. In der Informationsbroschüre lese ich die Erinnerungen seines ehemaligen Grundschulfreundes, František Křížek, der sich an die Zeit erinnert, als Pavel plötzlich verschwand: „Und dann war er weg. Wir fanden heraus, dass sie in einem Konzentrationslager waren.“

Die Familie Fišer, bestehend aus den Eltern Karel und Kamila, ihren Söhnen Jindřich und Pavel sowie der Großmutter Anna Mahlerová, wohnte und arbeitete am Platz in der Hausnummer 7 (heute befindet sich an dieser Stelle ein Papiergeschäft). Als Juden wurden die Kinder von der Schulbildung ausgeschlossen und zu Hause unterrichtet, in der Hoffnung, sie eines Tages in Sicherheit ins Vereinigte Königreich schicken zu können. Diese Hoffnung zerschlug sich brutal, die Familie wurde nach Theresienstadt und später nach Auschwitz deportiert, wo sie ermordet wurden.

Ähnlich erging es dem Ehepaar Elsner, dessen Haus heute nicht mehr steht. Beide wurden 1942 in Treblinka ermordet. Ihre Tochter Jarmila Horalová überlebte, weil sie 1939 nach Großbritannien flüchten konnte. Bei der Verlegung der Stolpersteine für ihre Eltern im Jahr 2019 war sie persönlich anwesend. Ihre Worte zeugen von der Zerrissenheit vieler jüdischer Familien: „Meine Schwester und ich wollten unsere Eltern nicht zurücklassen…“ Mein Vater sagte: ,,Lasst die Mädchen gehen, wir sind heute nicht wichtig.’’

Einer der vielen Stolpersteine: hier zum Gedenken an die Familie Fišer. Foto: Natálie Marie Vaňková
Einer der vielen Stolpersteine: hier zum Gedenken an die Familie Fišer. Foto: Natálie Marie Vaňková

Eine Zeitlose Idee

Das Konzept der Stolpersteine stammt vom deutschen Künstler Gunter Demnig, der 1992 den ersten Stein in Köln verlegte. Sie dienen als Erinnerung nicht nur an die jüdischen Opfer, sondern auch an verfolgte Homosexuelle, Roma und Menschen mit geistiger Behinderung. 

Heute können die Menschen die Steine bereits in mehr als 300 europäischen Städten entdecken. In der Tschechischen Republik begann der tschechische Verband der jüdischen Jugend 2008 mit der Aufstellung der Steine. Seit dem Herbst 2017 erinnern diese Steine auch in Říčany an das Schicksal der dortigen jüdischen Gemeinschaft. Die Juden aus Říčany und Umgebung wurden ab Anfang 1942 deportiert. Die meisten verschwanden am 12. September 1942, dem jüdischen Neujahrsfest (Rosh Hashanah), als 212 Juden in das Ghetto Theresienstadt und anschließend in die Liquidationslager deportiert wurden. 

Ein Appell gegen Antisemitismus und Rassismus

Nachdem ich alle Schilder und Broschüren gelesen habe, wird mir deutlich, dass das Projekt der Stolpersteine in Říčany nicht nur eine Mahnung an die Vergangenheit ist. Vor allem dient es als ein Appell, sich heute aktiv gegen Antisemitismus und Rassismus zu stellen. Es fordert uns auf, nicht zu vergessen, dass hinter jedem Stolperstein die Geschichte eines Lebens steht, das gewaltsam ausgelöscht wurde. 

Ich empfehle den Lesern, den Platz in Říčany zu besuchen. Stolpersteine sind übrigens nicht das Einzige, was unsere Stadt zu bieten hat. Sie können sich zum Beispiel in der wunderschönen Landschaft vor den Toren Prags entspannen und einen Kaffee in einem der hervorragenden Cafés trinken.

Ein hölzerner Informationsstand in der Mitte des Masaryk-Platzes bietet grundlegende Informationen an. Foto: Natálie Marie Vaňková
Ein hölzerner Informationsstand in der Mitte des Masaryk-Platzes bietet grundlegende Informationen an. Foto: Natálie Marie Vaňková

Der Informationsstand am Masaryk-Platz ist bei schönem Wetter wie folgt geöffnet:

Montag bis Donnerstag: 8-16 Uhr.
Freitag: 8 -17 Uhr
Samstag bis Sonntag: 9 -17 Uhr.

Im Winter je nach Wetterlage geöffnet:

Montag – Freitag: 9.30 Uhr – 16 Uhr.
Samstag: 9 – 11.30 Uhr.

Wenn Sie Fragen haben, können Sie das Touristeninformationszentrum in Říčany besuchen, ebenfalls am Masaryk-Platz (83/1).


Ahoj čtenáři! 
Ich heiße Naty, komme aus dem wünderschönen Říčany nahe Prag. Als Journalismus-Studentin an der Karls-Universität interessiere ich mich besonders für Politik und Themen, die die Gesellschaft bewegen. In meiner Freizeit jongliere ich wahrscheinlich zwischen Reisen, Büchern, Kinderlachen und Sport. Nach einem unvergesslichen Aufenthalt bei einer Gastfamilie in Hannover während meiner Gymnasialzeit liebe ich die deutsche Kultur und Sprache. Deshalb absolviere ich derzeit ein zweimonatiges Praktikum beim LandesEcho in Prag, um mehr über die deutsche Minderheit in Tschechien zu erfahren und um meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Ich freue mich darauf, euch auf meiner journalistischen Reise mitzunehmen!

Werden Sie noch heute LandesECHO-Leser.

Mit einem Abo des LandesECHO sind Sie immer auf dem Laufenden, was sich in den deutsch-tschechischen Beziehungen tut - in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur. Sie unterstützen eine unabhängige, nichtkommerzielle und meinungsfreudige Zeitschrift. Außerdem erfahren Sie mehr über die deutsche Minderheit, ihre Geschichte und ihr Leben in der Tschechischen Republik. Für weitere Informationen klicken Sie hier.