Unsere LandesBloggerin Isabella widmet diesen Artikel einem ganz bestimmten Baum in Prag: Einer Eiche, die im Jahr 2005 zum sogenannten „Baumdenkmal“ erklärt wurde.
Bei meinem ersten Besuch in Prag wurde mir eine Eiche vorgestellt. Seitdem habe ich sie, sooft ich in Prag war, immer wieder aufgesucht. Und jedes Mal, wenn ich sie wiedersehe, stehe ich mit neuer Ehrfurcht vor ihr. Um genau zu sein: Vor dieser Eiche steht man nicht. Man wird von ihr umringt. Der Baum lädt förmlich in sein Bauminneres ein, denn mit insgesamt 23 Metern Umfang geht er mehr in die Breite als in die 20-Meter-Höhe. Seine kräftigen, um nicht zu sagen muskulösen, Äste reichen fast bis auf den Boden und erstrecken sich mit majestätischem Schwung über das Prager Pflaster.
Zu Fuß in die Baumkrone
Für gewöhnlich muss man etliche Meter hochklettern, um in eine Baumkrone zu gelangen. Anders bei diesem Baum, dessen Baumkrone sich zu Fuß betreten lässt. Man kann geradewegs in die Baumkrone laufen – so zumindest kommt es mir vor, wenn ich von Ästen umgeben mitten auf dem Bürgersteig stehe. Und dabei bricht sich der Baum keinen Zacken aus der (Baum-)Krone. Das meine ich nicht nur metaphorisch, tatsächlich war einer meiner ersten Gedanken, nein, Gefühle, als ich mich in die ausladende Astwelt begab: Dieser Baum gibt sich selbst derartig preis, ist so nahbar, dass er sich dadurch ebenso verletzbar macht. Mit überwältigender Offenheit gibt sich die Eiche möglicher Gefahr hin, die ihr am Boden wahrscheinlich mehr blüht als in unnahbarer Höhe.
Allem voran der Mensch, das gefährliche Tier, bedeutet potentielle Bedrohung: Es wäre dem Zweibeiner ein Leichtes, mal eben im Vorbeigehen, beziehungsweise Durch-den-Baum-gehen, die Äste des Baumes ganz bis auf den Boden zu drücken und allein dadurch manch einem der schlankeren Äste das Genick zu brechen… Doch es ist eben kein „Leichtes“. Denn dieser Baum verliert auch aus nächster Nähe seine Wucht nicht. Die Eiche fordert Respekt von dem, der sich ihr nähert. Ich jedenfalls komme nicht umhin, sie für ihre andauernd einladende, ich möchte sagen: mutige, Geste zu bewundern.
Zu Fuß in die Baumkrone: Die Äste wachsen über den Bürgersteig. Foto: Alexey Norkin
Ehemaliger Botanischer Garten
Man könnte annehmen, solch ein außergewöhnlicher Baum müsse sich an irgendeinem geheimen Fleckchen in Prag befinden, in einem alten Hinterhof zum Beispiel. Doch falsch: Die Eiche steht an der vielbefahrenen Straßenkreuzung „V Botanice“ und „Janáčkovo nábřeží“ in unmittelbarer Nähe zur Moldau („nábřeží“ heißt auf Tschechisch „Ufer“ oder „Uferstraße“) am Kopf der Jiráseks-Brücke im Prager Bezirk Smíchov. Noch dazu thront die Eiche an dieser Straßenkreuzung nicht einsam und allein, sondern bildet dort den Eckpfeiler eines kleinen Parks namens „Dienzenhoferovy sady“. Der Barockarchitekt Kilian Ignaz Dientzenhofer hatte im Jahre 1735 den Jesuiten, die zu jener Zeit im Besitz dieses Grundstücks waren, einen schicken Barockpavillon für ihre Ordensapotheke gebaut, woraufhin sie den prominent gelegenen Jesuitengarten nach ihm benannten.
Zwanzig Jahre später, 1775, wurde der Garten auf Erlass der Kaiserin Maria Theresia, einem langgehegten Wunsch der Universitäts-Botaniker entsprechend, als Botanischer Garten angelegt. Dieser erste kaiserlich-königliche Botanische Garten der Karlsuniversität ist einer der ältesten Universitätsgärten in Europa, seinerzeit genoss er auch internationales Ansehen. Allerdings wurde bei der Hochwasserkatastrophe im September 1890 auch der nah am Moldauufer gelegene Botanische Garten überschwemmt. Vor diesem Hintergrund verlegte man ihn 1898 in die Prager Neustadt, wo sich bis zum heutigen Tag der Botanische Garten der Karlsuniversität befindet. Im Dientzenhofer-Park indessen verweist noch immer der Straßenname „V Botanice“ auf jenes vergangene Kapitel Ortsgeschichte.
Die Grünanlage an der Moldau wurde nach der Verlegung des Botanischen Gartens im Rahmen von Hochwasserschutzmaßnahmen angehoben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass meine verehrte Eiche – übrigens eine Stieleiche, auch Sommereiche oder Deutsche Eiche genannt – erst nach diesen Hochwasserschutzmaßnahmen gepflanzt wurde. In jedem Fall zählt sie ihre Lenze: Ihr Alter wird auf 120 oder, falls sie vor der Hochwasserkatastrophe gepflanzt wurde, auf 160 Jahre geschätzt. Was allerdings, in beiden Fällen, für eine Eiche immer noch jung ist.
Tschechische Baumdenkmale
Erst während der Recherche für diesen Artikel habe ich herausgefunden, dass diese Prager Eiche im Jahr 2005 zum sogenannten „Baumdenkmal“ (památný strom) erklärt wurde. Anders als in Deutschland, wo geschützte Bäume unter den naturschutzrechtlichen Übergriff „Naturdenkmal“ fallen, gibt es in Tschechien für solche Bäume eine eigene Kategorie, den „památný strom“. Direkt ins Deutsche übersetzt würde das vielleicht „Gedenk-Baum“ heißen – was dann aber zu Verwechslungen mit dem deutschen Gedenkbaum führte, welcher für eine Person, also ihr eingedenk, gepflanzt wird. Der „památný strom“ hingegen steht nicht für etwas oder jemand anderes, der Baum selbst ist das Denkmal.
Ein Baum kann in Tschechien aus unterschiedlichen Gründen zum Denkmal erklärt werden: Dazu zählen unter anderem außergewöhnliches Alter, ungewöhnliches Wachstum oder ein besonderes Erscheinungsbild. Aber auch seltene Baumarten oder Bäume, die einen besonderen Beitrag zu Landschaft leisten, können zu Denkmalen ernannt werden.
In Tschechien gibt es etwa 25.000 Bäume solcher Art. Mit einem Wappen der Tschechischen Republik auf einer kleinen roten Plakette werden sie als „památný strom“ markiert. Auch bei der Eiche im Dientzenhofer-Park prangt eine derartige Plakette vor dem fast vier Meter dicken Stamm.
Das kleine Schild vor dem Baumstamm markiert den Baum als Baumdenkmal. Foto: Alexey Norkin
Sinnbild des Friedens
Zwar ist es vonseiten des Staates verboten, Baumdenkmale in ihrer natürlichen Entwicklung zu stören oder gar zu zerstören, doch die Baumdenkmalplakette ziert die prächtige Eiche von Smíchov ja erst seit 2005. Und anders als bei anderen geschützten Bäumen in Prag hält hier kein Zaun die Passanten auf Abstand. Deshalb gilt es festzuhalten: Niemand hat diesem Baum ein Haar, das heißt einen Ast gekrümmt, Jahrzehnte lang durften sich seine Äste den Menschen entgegenstrecken und ihnen, wenn man so will, den Weg versperren. Dennoch hat kein Mensch aus irgendeiner bösen Laune heraus die Eiche an ihrer Entfaltung gehindert, alle haben sie in Frieden wachsen lassen… Das ist für mich zu einem Sinnbild des Friedens geworden: In einem einzigen Moment genügte eine einzige Person, um einen Ast abzubrechen – um aber einen ganzen Baum in Frieden leben zu lassen, dafür braucht es allezeit alle Menschen zusammen.