Es gibt viele Arten, sich als Neuankömmling Prag zu erschließen. Ob geführt, auf dem Boot oder motorisiert auf dem Segway. Ich entschloss mich, den Spuren eines bekannten und umstrittenen Prager Künstlers zu folgen: David Černý.

Stellen Sie sich vor, Sie erklimmen eine Stahlleiter, um anschließend durch ein Guckloch im Hinterteil eines überdimensionalen Figurenpaars zwei tschechische Politiker dabei zu beobachten, wie sie sich gegenseitig mit Haferbrei füttern, akustisch untermalt von „We are the Champions“. Das können Sie sich nicht vorstellen? Kein Problem. David Černý schafft Abhilfe. Der zeitgenössische Prager Bildhauer und Aktivist lädt Bewohner und Besucher der Stadt dazu ein, genau diese Erfahrung von Mittwoch bis Sonntag zwischen 11 und 18 Uhr in der Futura Galerie in Smíchov zu machen.

An eine Wand gebeugt, lädt das Figurenpaar dazu ein die Leiter zu erklimmen. Foto: Facebook/David Černý

An eine Wand gebeugt, lädt das Figurenpaar dazu ein die Leiter zu erklimmen. Foto: Facebook/David Černý

Enfant terrible der Kunstszene

Bereits während seines Studiums an der Kunstakademie in Prag gestaltete er den öffentlichen Raum mit. Seine Werke lassen sich weniger an ästhetischen als inhaltlichen Kriterien messen. Erstmals in öffentliche Erscheinung trat der Kunststudent 1991, als er gemeinsam mit Freunden ein Denkmal an den zweiten Weltkrieg pink anstrich und mit einem Finger in eindeutiger Geste versah. Dem politischen Protest folgte eine Inhaftierung wegen Vandalismus.

Černý liebt die Provokation. Als er anlässlich der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft 2009 den Auftrag bekam, an einer Kunstinstallation mitzuwirken, die die 27 EU-Mitgliedsstatten repräsentiert, schockierte er mit seinem Projekt „Entropa“ Europa. Viele Länder sahen sich durch die überspitzte Darstellung der Mitgliedsstaaten angegriffen, besonders Bulgarien. Außerdem stellte sich heraus, dass Černý und seine Mitarbeiter die Biografien der anderen teilnehmenden Künstler frei erfanden und das Projekt nicht als Gemeinschaftsprojekt, sondern in Eigenregie realisierten.

Bereits bei der Vorbereitung meiner Tour hat mich Černý in seinen Bann gezogen. Die Idee, Kunst im öffentlichen Raum zu installieren und sie jedem zugänglich zu machen, begeistert mich. David Černý als Enfant terrible der Prager Kunstszene schien mir der perfekte Wegbegleiter, um meine neue Wahlheimat zu erkunden.

Die pinkelnden Männer

Meine Tour startet an einem Ort, der sich einem anderen bekannten Sohn der Stadt widmet, auf dem Vorplatz des Franz-Kafka-Museums. Die Tatsache, dass zwei nackte Männer sich in Springbrunnenform anpinkeln, entgeht wohl kaum einem Besucher des Museums. Auch ich erinnere mich daran, bei meinem letzten Pragbesuch vor fünf Jahren an dem außergewöhnlichen Brunnen vorbeigegangen zu sein.  Viele Details dieser Installation, die mich stark an das Manneken Pis, dem Wahrzeichen Brüssels, erinnert, erschließen sich dem Betrachter jedoch erst bei genauerem Hinsehen. Das Becken, in dem die beiden Skulpturen stehen, hat die Form Tschechiens. Außerdem ermöglicht der geschichtete Aufbau das Rotieren der Gliedmaßen. In der Vergangenheit soll es sogar möglich gewesen sein, eine SMS an eine Nummer zu senden, um sich eine personalisierte Nachricht „pinkeln“ zu lassen.

Babys

Drei der „Miminka“ krabbeln im Kampa-Park über den Asphalt. Foto: Lara Kauffmann

Drei der „Miminka“ krabbeln im Kampa-Park über den Asphalt. Foto: Lara Kauffmann

Mein Weg führte mich weiter am Ufer der Moldau entlang durch den Kampa-Park zu einem Kunstwerk ganz anderer Art. An zwei Orten in Prag sind die „Babys“ („miminka“) zu finden. Zunächst begegnete ich den überdimensionierten Babys ohne Gesicht am Boden im Kampa Park. Obwohl die Skulpturen ohne Mimik und in schwarzer Farbe zunächst etwas bedrohliches ausstrahlen, werden sie hier zum beliebten Fotomotiv vieler Touristen. Neben dem Kampa Park klettern neun der Miminka den 217 Meter hohen Fernsehturm in Žižkov auf und ab und werten das zum zweithässlichsten Gebäude der Welt gewählte Bauwerk künstlerisch auf.

Embryo

Der nächste Halt auf meiner Tour erfordert ein Bad in der Menschenmenge auf der Karlsbrücke und ein aufmerksames Auge. An der Hauswand des Theaters am Geländer (Divadlo Na zábradlí), unweit der Karlsbrücke, ziert ein Embryo eine Regenrinne. Tagsüber leicht zu übersehen, erleuchtet er nachts die Straße.

Siegmund Freud

Auch beim nächsten Stopp ist ein Blick nach oben gefragt. An einer Eisenstange hängt an der Kreuzung zwischen Na Perštýně und Jilská eine Metallskulptur Siegmund Freuds. Abgelenkt von Touristenshops, Restaurants und den Menschen, die durch die engen Gassen strömen, dauert es ein bisschen, bis ich den Österreicher über der Straße hängen sehe.

In einer schmalen Gasse in der Altstadt überrascht Sigmund Freud bei einem Blick nach oben. Foto: Lara Kauffmann

In einer schmalen Gasse in der Altstadt überrascht Sigmund Freud bei einem Blick nach oben. Foto: Lara Kauffmann

Kafka Statue – „METALmorphosis“

Das jüngste Mitglied in Černýs Skulpturensammlung befindet sich nur wenige Gehminuten entfernt. Bereits aus der Ferne bin ich geblendet von der Reflexion der Sonne, die die glänzende Büste Franz Kafkas anstrahlt. Seit November 2014 ziert Kafkas Kopf unter dem Namen „METALmorphosis“ den Vorplatz des Shoppingcenters OC Quadrio. Außer mir bestaunen viele weitere Besucher die zehn Meter hohe und 45 Tonnen schwere Statue. Auch das Abbild Kafkas kann seine 42 Schichten mit Hilfe einzigartiger Codierungen in verschiedene Formen bringen. Ich bin beeindruckt von der Choreografie der Installation und den sich ständig verändernden Formen.

„Immer in Bewegung“ die Kafka Büste beeindruckt mit sich ständig verändernden Formen. Foto: Lara Kauffmann

„Immer in Bewegung“ die Kafka Büste beeindruckt mit sich ständig verändernden Formen. Foto: Lara Kauffmann

Der Heilige Wenzel

Die vorerst letzte Station in der Innenstadt führt mich wenige Meter entfernt in die Lucerna-Passage. Die Passage verbindet nicht nur die beiden Straßen Štěpánská und Vodičkova, sondern Zeiten. Beim Durchqueren bekomme ich das Gefühl, in ein Prag der 1920er Jahre zu reisen. Die Farben verblassen, die bunten Fenster brechen das Licht und lassen den Trubel rund um den Wenzelsplatz (Václavské náměstí) vergessen. Beim Blick nach oben muss ich schmunzeln. Gegenüber einem Kino schmückt eine mir bekannte Figur die Decke, der Heilige Wenzel (Svatý Václav). Allerdings thront er in der Passage nicht wie sein Vorbild wenige Meter entfernt auf einem Platz, sondern sitzt auf einem kopfüber von der Decke hängenden Pferd.

Der Heilige Wenzel schmückt nicht nur den Wenzelsplatz, sondern sorgt auch in der nahegelegenen Lucerna-Passage für einen besonderen Hingucker. Foto: Lara Kauffmann

Der Heilige Wenzel schmückt nicht nur den Wenzelsplatz, sondern sorgt auch in der nahegelegenen Lucerna-Passage für einen besonderen Hingucker. Foto: Lara Kauffmann

MeetFactory

Den Abschluss findet meine Tour in der MeetFactory. Hinter dem Bahnhof Smíchov auf der anderen Seite der Bahngleise tritt der kuriose Bau direkt in mein Blickfeld. In einer ehemaligen Fleischfabrik richtete Černý 2001 ein internationales Zentrum für zeitgenössische Kunst ein. Das Industriegelände beherbergt neben Ausstellungen etablierter sowie junger aufstrebender Künstler ein Theater, eine Bar, Ateliers, Veranstaltungsräume und lädt im Sommer regelmäßig zu Freiluftkino, Flohmärkten und anderen Kulturveranstaltungen ein.  Schon beim Betreten der Haupthalle vermischen sich verschiedene Laute zu einem Geräuschteppich, der sich bei genauerem Hinhören in Stimmen und exotische Klänge zersetzt. Ich folge den Klängen und finde mich in einer multimedialen Ausstellung wieder, die sich mit dem Thema Spiritualität auseinandersetzt.

Die Fassade lässt erahnen, dass es sich hier nicht um ein gewöhnliches Industriegebäude handelt. Foto: Lara Kauffmann

Die Fassade lässt erahnen, dass es sich hier nicht um ein gewöhnliches Industriegebäude handelt. Foto: Lara Kauffmann

In den Hallen der MeetFactory habe ich das Gefühl, dem exzentrischen Künstler besonders nah zu kommen. Neben Touristen konzentriert sich hier eine bunte Mischung an Kreativschaffenden und Interessierten. Auch die Gestaltung dieses Ortes trägt unverkennbar Černýs Handschrift. Autos schmelzen vermeintlich die Außenfassade herab und im Inneren durchquert man einen weitläufigen Raum, von dessen Decke ein Kinoauditorium hängt. 

Die Suche nach Černýs Werken hat mich nicht nur dem Künstler nähergebracht, sondern auch an verschiedenste Ecken der Stadt geführt und mein aufmerksames Auge für künftige Erkundungstouren geschult.

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