Eine eigene Firma, eine neue Wohnung im 21. Stock eines modernen Neubaus, einen 16-jährigen Sohn und liebenden Ehemann – die Ukrainerin Olga Vaganova-Golovko hatte mit ihren 48 Jahren alles, was sie sich vom Leben erhoffte. Vor knapp zwei Jahren sprengten Bomben ihren Traum. Heute lebt sie mit ihrem Sohn in Brünn (Brno).

Um fünf Uhr morgens wird sie von einem lauten Knall geweckt. Der Erdboden erbebt. Seit ein paar Tagen gibt es Gerüchte über einen bevorstehenden Angriff. Das schien so fern, sie wollte dem kein Gehör schenken. Doch nun ist klar: Der Krieg hat begonnen. Zur selben Zeit wurden neben Kiew vier weitere große Städte in der Ukraine vom russischen Militär bombardiert.

Weglaufen ist für Olga Vaganova-Golovko jedoch keine Option. Stattdessen packt sie ihre Sachen zusammen, um zu ihrem wöchentlichen Training im Fitness-Studio zu gehen. Der Kalender zeigt den 24. Februar 2022. Einen ganz normalen Donnerstag. Im Gehen schnappt sie sich automatisch noch den Müll, als sie draußen auf ihre Nachbarn trifft. Mit Taschen bepackt, zur Abfahrt bereit, telefonieren sie aufgeregt mit Bekannten. Sie suchen einen Ort zur Flucht. Auch sie haben ihren Müll dabei und fragen Olga, ob sie ihn mit entsorgen könne, sie hätten all ihre Halbseligkeiten zu tragen.

Als sie im Studio ankommt, ist es bereits geschlossen. Alle Kurse wurden abgesagt. Sie lässt sich davon nicht beirren und läuft rüber in das Büro ihrer kleinen Firma. Sie berät mit ihrem Team, dass alle ihre Computer mit nach Hause nehmen, um unabhängig weiterarbeiten zu können. Schließlich stehen wichtige Termine bevor. Im Gegensatz zu ihrem Arbeitsplatz sind die Straßen auf dem Weg zurück nach Hause wie leergefegt. Alle Bewohner, die ein Auto haben, sind geflüchtet. Andere verstecken sich oder wurden in den Trümmern ihres einstigen Zuhauses vergraben.

Die Flucht beginnt

So vergehen zwei Tage. Nachts schläft Olga mit ihrem Sohn und Mann in der zweistöckigen Tiefgarage, ihrem improvisierten Bunker. Dann setzt die Regierung eine Sperrstunde an: Nach 16 Uhr soll sich keiner mehr auf den Straßen aufhalten. Es bleiben dreißig Minuten Zeit, um den letzten Evakuierungszug des Tages zu bekommen. Die Familie wohnt nicht weit vom Bahnhof. Sie wagen sich auf den Weg. Bepackt ist Olga nur mit drei kleinen Rucksäcken: Im braunen hat sie ihren Computer und persönliche Dokumente, in einem schwarzen ist Essen für die Fahrt, in dem letzten weißen Kleidung. Auch Sportklamotten sind dabei, vielleicht kann sie in denen bald wieder an einem Fitness-Kurs teilnehmen. Um die Schulter baumelt ihre schwarze Isomatte, damit sie gegebenenfalls auch auf dem Boden schlafen kann. Sie schaffen den Zug.

„Es waren viele Menschen, aber vor allem war der Zug voller Tiere“, erzählt die Ukrainerin mit glasigen Augen, aber einem Schmunzeln auf den Lippen, als sie sich an die Dame mit den sechs Katzen in ihrem Abteil erinnert. Im Zug entspannt sich Olga erstmals wieder. Natürlich könnte auch dieser bombardiert werden, aber es tut gut, mal nicht nur zu sitzen, sondern zu handeln – und dabei nun ein Ziel vor Augen zu haben: Lviv. Sie hat hier gute Freunde und es ist relativ sicher, da es sich am westlichen Rand der Ukraine befindet.

Nach ein paar Tagen nehmen aber auch hier die Angriffe zu. Olga ist es jedoch leid, sich zu verstecken. Nach jedem Mal, bei dem sie selbst nicht getroffen wird, bleibt sie länger draußen, wenn der Luftalarm durch die Straßen schallt. Später beschreibt sie: „Es war wie in einem Roman, nur dass ich plötzlich die Hauptfigur des Buches war.“ Nun beschließen die Freunde, bei denen sie untergekommen ist, nach Deutschland zu fliehen. Olgas Familie möchte nicht gehen, aber sie hat Angst um ihren Jungen: Er sitzt seit Tagen in der Ecke eines Zimmers – ist in eine Art Starre verfallen. Der Mann hat Freunde aus seiner Studienzeit in Tschechien, diese suchen ihr und dem Sohn daher doch noch eine Wohnung in Brünn. Olgas Partner darf aber nicht mitkommen. Alle wehrfähigen Männer müssen im Land bleiben.

Die Arbeit ist ihr Anker

Mit einem Privatlehrer übt sie jeden Tag Tschechisch, da sie weiß, dass sie sonst nur schwer einen Job bekommt. Es ist ihr egal, wo sie arbeitet, ob in einer Fabrik oder wieder im Büro, sie möchte nur ihr eigenes Geld verdienen, hält nichts von Almosen. Ihr Lebensmotto: Die meisten Probleme kann man mit Arbeit lösen. Die macht ihr Spaß, das kann sie, daran kann sie sich festhalten.

Auch heute übt sie fleißig jeden Tag. Dank ihrer sehr guten Englischkenntnisse hat sie einen Job bei dem Verein Vesna bekommen. Hier hilft sie bedürftigen Menschen, die in Brünn leben, mit sozialen, bildenden und Freizeitaktivitäten. Die Chefin redet vom ersten Tag an nur Tschechisch mit ihr. „Wenn man Ukrainisch kann, versteht man mindestens die Hälfte. Den Rest muss man dann lernen.“ Ihre Wohnung bezahlt sie selbst, sie ist Teil der ukrainischen Gemeinde in Brünn und die Tschechen in der Stadt akzeptieren sie, da sie auf eigene Kosten lebt. Der Sohn kann an der Universität Internationale Beziehungen auf Englisch studieren. Zuhause macht die Ukrainerin schon wieder ihren Sport. Eine Gruppe im Fitnessstudio, bei der ihr das Training gefällt, hat sie noch nicht gefunden.

Olga wartet in Brünn darauf, dass der Krieg zu Ende geht. Dann will sie zurück – in ihre frisch renovierte Wohnung und hart erarbeitetes Lebensglück. Aber nur, wenn die Ukraine nicht verliert.

Dieser Beitrag entstand im Rahmen der vom ifa geförderten Medienwerkstatt „Geschichten vom Gehen und vom Bleiben“ vom 4. bis 6. August in Brünn, die das LandesEcho gemeinsam mit dem Karpatenblatt organisierte.

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