Heute vor 35 Jahren: Kaum hatte am 30. September 1989 um 18.59 Uhr Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher die erlösenden Worte gesprochen, begann für Tausende Menschen die Reise zur Freiheit.
Und die begann irgendwie diskret. Nicht am großen Hauptbahnhof, sondern am unscheinbaren Bahnhof Praha-Libeň. Ein unauffälliger Ort ohne jeglichen Altstadt-Charme, den kaum je ein Tourist zu sehen bekommt. Aber heute auch ein kleiner Gedenkort. Worum ging es? Im September 1989 hatten sich immer mehr Menschen aus der „DDR“ auf das Gelände der (bundes-) deutschen Botschaft in Prag im Palais Lobkowitz auf der Kleinseite geflüchtet, in der Hoffnung, dass von dort aus ein Weg ermöglicht werde, raus aus dem bereits Auflösungserscheinungen zeigenden kommunistischen Regime der „DDR“ und in den freien Westen zu gelangen. Als Genscher auf den Balkon trat, befanden sich bereits 4000-5000 Flüchtlinge unter zum Teil widrigsten hygienischen Bedingungen, eingepfercht in der Botschaft und auf dem Botschaftsgelände. Und sie hofften, dass man sie in die Freiheit entließe. Dann 16 Worte, von denen die letzten im Jubel nicht mehr hörbar waren: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise möglich geworden ist.“ Große Reden müssen nicht lang sein. Genschers Balkonrede bewies es.
Reise in die Freiheit durch die DDR
Aber ein Punkt, den die Flüchtlinge erst danach erfuhren, löste dann doch Beunruhigung aus. In den Verhandlungen zuvor hatte die bundesdeutsche Seite den Vertretern der „DDR“ ein gesichtswahrendes Zugeständnis gemacht. Offiziell sollten die Flüchtlinge erst einmal in die „DDR“ zurückgefahren werden, wo sie nicht wegen ihres (nach „DDR“-Verständnis) unrechtmäßigen Aufenthalts in der bundesrepublikanischen Botschaft bestraft , sondern aus „humanitären Gründen“ umgehend in den Westen ausgewiesen werden sollten. So ließ es die offizielle Nachrichtenagentur der „DDR“ ADN es auch umgehend verlauten. Es kostete einige Mühen, die Flüchtlinge davon zu überzeugen, dass ihr „Kurzaufenthalt“ in der „DDR“ ungefährlich sei und westdeutsche Diplomaten überwachen würden, dass niemand sie verhaften werde. Und natürlich sollte die Sache diskret ablaufen. Deshalb wählte man auch den Bahnhof im etwas außerhalb des Stadtzentrums liegenden Stadtteil Libeň (Prag 8) als Anfangspunkt der Reise. Schon rund 1½ Stunden nach Genschers Rede, um 19.30 Uhr, verließen die ersten Flüchtlinge die Botschaft in Richtung Bahnhof, wo der erste Zug um 20.50 Uhr in Richtung Dresden losfuhr. Vier weitere Züge folgten im Abstand von je zwei Stunden.
Der Anfang vom Ende
Von Dresden aus ging es weiter nach Bayern in die fränkische Stadt Hof, wo der erste Zug mit 1200 Flüchtlingen am 1. Oktober um 6.14 Uhr unter dem Jubel der Menge einlief. Unterwegs hatten Grenzbeamte der „DDR“ den Flüchtlingen die Pässe weggenommen. Nicht allen, denn als es gewiss war, dass die Reise nun in den Westen ging, hatten etliche von ihnen bereits die Pässe ihres ungeliebten „Arbeiter- und Bauernstaates“ wütend aus den Zugfenstern geworfen. Noch am selben Tag sollten die übrigen der rund 5000 Botschaftsflüchtlinge nacheinander hier ankommen. Und die Nachricht lockte immer mehr Flüchtlinge nach Prag, so dass am Ende bis zum 4. Oktober von Libeň aus noch tausende weitere Ostdeutsche in die Freiheit gefahren wurden. Von einer Abstimmung über die „DDR“ mit den Füßen konnte man reden. Und eine, die die „DDR“ nicht lange überleben sollte. Nur rund 6 Wochen danach, am 9. November 1989, fiel die Mauer. Und rund ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, erfolgte die Wiedervereinigung. Wer diese Zeit miterlebt hat, wird diese Momente der Freiheit nicht vergessen.
Ein Stück deutsche Freiheitsgeschichte
Und so wurde der unscheinbare Bahnhof von Libeň zu einem kleinen Kapitel deutscher Freiheitsgeschichte. Das hat man inzwischen gewürdigt. Zum 30. Jahrestag der Balkonrede und der Abreise der Flüchtlinge, am 30. September 2019, weihten der ehemalige Chef des Bundeskanzleramtes im Rang eines Ministers für besondere Aufgaben, Rudolf Seiters, der an jenem großen Tag 1989 zusammen mit Genscher in der Botschaft war, der Musiker Markus Rindt, der mit seiner Familie zu den Botschaftsflüchtlingen gehörte und der 2019 aktuelle Botschafter Christoph Israng im Eingangsbereich des Bahnhofs eine einfache zweisprachige (tschechisch/deutsch) metallene Gedenkplatte ein. Der (deutschsprachige) Text lautet: „Über Prag in die Freiheit. Vom Bahnhof Prag Libeň fuhren zwischen dem 30. September und dem 4. Oktober 1989 rund 13.000 Bürgerinnen und Bürger aus der DDR in insgesamt 14 Sonderzügen in die Bundesrepublik Deutschland. Zuvor hatten sie teils wochenlang in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Zuflucht gesucht. Die Züge in die Freiheit waren ein wichtiger Schritt zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Überwindung der Teilung Europas.“
Prag-Libeň: Ein geschichtsträchtiger Ort
Schöne Worte, die dem Bahnhof in der Českomoravská 316/24 in Prag 8 ein wenig den Glanz verschaffen, den man ihm sonst äußerlich kaum ansehen könnte. Der ursprüngliche Bahnhof hier aus dem Jahr 1877 wurde nämlich 1945 durch Bomben zerstört und der noch funktionierende Torso dann 1978 durch einen modernen, ästhetisch aber nicht sonderlich ansprechenden (somit passend zur Umgebung) und rein funktionalen Neubau ersetzt. Die Tafel aber macht zumindest den Eingangsbereich zu einem kleinen Freiheitsort. Nicht zuletzt weil sich gegenüber der Gedenkplakette für die Züge der Freiheit noch zwei Tafeln zur Erinnerung an Bahnhofsangestellte hängen (eine sieht man oberhalb rechts), die im Mai 1945 beim Prager Aufstand (siehe auch hier, hier, hier und hier) gegen die Nazis ums Leben kamen. Das schafft vielleicht ein tieferes Verständnis dafür, was für eine Grauenszeit des Totalitarismus 1989 beendet wurde.
Ahoj aus Prag! Seit September 2016 leben wir berufsbedingt in Prag. Wir – eigentlich Rheinländer – haben sie schon voll in unser Herz geschlossen, diese Stadt! Deshalb dieser Blog, in dem wir Fotos und Kurzberichte über das posten, was diese Stadt so zu bieten hat und was wir so erleben. Wir, das sind:
Lieselotte Stockhausen-Doering und Detmar Doering
… und unser Hund Lady Edith! Wer sich in Prag einmal umschauen möchte, wird auf diesem Blog nach einiger Zeit sicher Interessantes finden, was nicht jeder zu sehen bekommt, der die Stadt besucht. Viel Spaß beim Lesen!