Komotauer Schüler tauchten ein in die ungewöhnliche Geschichte einer deutschen Familie, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre nordböhmische Heimat nicht verlassen durfte.
„Als die Vertreibungen begannen, wurde meinem Opa gesagt: ‚Du bist hier der Einzige, der da im Schacht richtig arbeiten kann. Du musst die neuen Leute, die bald kommen werden, anlernen. Darum lassen wir Dich nicht gehen!‘“ Unsicher und schüchtern sitzt Kristina Kupilíková vor ihren jungen Zuhörern. Sie, geboren 1955 im nordböhmischen Komotau (Chomutov), ist zum ersten Mal Zeitzeugin. Zum ersten Mal steht sie mit ihrer Familiengeschichte im Mittelpunkt. Obwohl sie die Zeit des Zweiten Weltkrieges selbst nicht miterlebt hat, kann sie doch viel darüber erzählen. Denn im Gegenteil zu vielen anderen Deutschen in der Region durfte ihre Familie das Land nicht verlassen, so sehr es ihre Eltern auch gewollt hätten.
Kupilíková gehört zur deutschen Minderheit. Ihre Eltern waren beide Deutsche. Nur selten wurde in ihrer Familie Tschechisch gesprochen, weil die Oma ihres Vaters Tschechisch sprach. „Der Vater meiner Mutter ging nach dem Krieg weg, nach Deutschland. Ihre Mutter starb bei der Arbeit als Köchin. Meine Mutter blieb dann mit ihrer Schwester allein, als sie 15 Jahre alt war. Später zogen sie hier auf die Halková-Straße, wo heute das Casino ist, hier gegenüber“, erzählt sie aus den Erzählungen ihrer Eltern. Immer, wenn Kupilíková heute das Deutsche-Tschechische Begegnungszentrum in Komotau besucht, erinnert sie sich an ihre Kindheit. „Das ist schön. Hier gab es früher viel Schnee.“
Nun sitzt sie in eben jenem Begegnungszentrum und erzählt einem guten Dutzend Schülern von ihrer Kindheit. Die Jugendlichen sind 14 Jahre und älter und kommen vom städtischen Gymnasium. Deutsch lernen nur wenige von ihnen. Sie haben sich zu dem Workshop angemeldet aus Neugier oder Interesse an Geschichte. Viktor zum Beispiel ist ein junger Kameramann und will auch etwas über das Interviewen lernen. Hanka, die hinter ihm sitzt, will später gern Journalismus studieren. „Ich habe den Eindruck, dass beim Thema Sudetendeutsche nie jemand danach fragt, wie sich die Deutschen selbst gefühlt haben, als viele von ihnen vertrieben wurden“, wundert sich die Schülerin.
Vorbereitungen auf eine Reise in die Vergangenheit
Auch für die Schüler und Schülerinnen ist es das erste Mal, dass sie ein solches Zeitzeugengespräch erleben – und aktiv mitgestalten. Eineinhalb Tage haben sie sich darauf vorbereitet. Den Workshop zur Oral History (wörtlich: Mündliche Geschichte) veranstaltete Jukon, die Jugend- und Kultur-Organisation der Landesversammlung. „Kann Oral History die historische Wahrheit enthüllen?“, fragt die Referentin, Journalistin und Medienpädagogin Lucie Römer in die Runde. Keine Antwort. „Was ist denn eigentlich ‚historische Wahrheit‘? Gibt es die überhaupt?“ Aber vielleicht geht es ja auch gar nicht darum, sondern um die vielen kleinen Details, die jedes einzelne Schicksal besonders machen.
Zur Vorbereitung auf das Gruppeninterview mit der Zeitzeugin sahen die Schüler Ausschnitte aus Dokumentarfilmen und lasen Beispiel-Interviews. Sie trugen mögliche Fragen zusammen und lernten, dass man mit offenen viel mehr erfahren kann als mit einfachen Ja-Nein-Fragen.
Die erste Frage der Jugendlichen lautet: „Was war Ihr Hobby als Kind, was hat Ihnen Freude bereitet?“ Die Befragte zögert kurz. Wo soll sie auch anfangen? Sie entscheidet sich für den für sie größten Unterschied ihrer Kindheit zu der ihrer Zuhörer: „Wisst ihr, wir haben damals mit 14-15 noch mit Puppen auf der Decke im Hof gespielt. Haben für sie Sachen gestrickt. Das hat uns Freude gemacht. Klingt für euch heute sicher unglaublich…“ Die Schüler lächeln sich gegenseitig an, als habe man sie bei etwas Unschicklichem ertappt. Ja, mit Puppen spielt von ihnen heute sicher niemand mehr.
Weiße Flecken der Familiengeschichte
Kurz später: „Welche unangenehme Erinnerung haben Sie an Ihre Kindheit?“ „Preiselbeeren putzen“, fällt Kupilíková ein. „Wenn unsere Eltern zur Arbeit gingen, stellten sie uns oft einen Topf mit Preiselbeeren hin. Die mussten mein Bruder und ich dann putzen, von Blättern befreien, abwaschen. Darum haben wir uns dann oft gestritten.“ Mit ihrem Bruder habe sie heute nicht mehr viel Kontakt. Kupilíková war die Älteste. Ihr Bruder ist ein Jahr, die Schwester sieben Jahre jünger.
Der Großvater hatte gegen Kriegsende mit den Deutschen „paktiert“. Er floh dann nach Deutschland, ihre Mutter und Tante kamen in ein Lager: „Das war irgendwo am Bahnhof, da waren sie draußen. Meine Mutter konnte nicht darüber sprechen, ihr hat das sehr zugesetzt. Lange war das nicht, eine Weile. Details weiß ich dazu nicht.“
Als dann 1968 „die Russen kamen, kam Papa von der Nachtschicht nach Hause und sagte: ‚Es wird Krieg geben!‘ Wir mussten einkaufen und Vorräte anlegen“. Aber auch wenn kein Krieg kam, änderte sich doch nichts. Denn wieder ließ man die Familie nicht ausreisen. „Obwohl wir alle Voraussetzungen erfüllten. Ich hatte an der Schule ausgelernt und hätte nun auch woanders leben können, mein Bruder auch. Aber man erlaubte das nicht.“
Das Eis bricht bei Schulgeschichten
In der Schule hatte sie vor allem bei Diktaten Probleme, habe oft š und ž (stimmhaftes und stimmloses sch, das im Tschechischen sinngebend sein kann) verwechselt. „Als meine Lehrerin meiner Mutter sagte, dass ich eine schlechte Aussprache habe, mussten wir auch zuhause mehr Tschechisch sprechen“, erinnert sie sich.
Mit den Mitschülern kam sie gut aus. Erst `68 bekam sie wieder Probleme in der Schule: „Weil ich mit den Gedanken völlig woanders war.“ Die Niederschlagung des Prager Frühlings traf hier auf die einsetzende Pubertät. „Eine Lehrerin haben wir viel geärgert, sie kam aus Russland: Wir haben Pilze eingeweicht und die dann auf ihren Stuhl gelegt, sodass sie sich dann draufsetzte.“ Sie lacht, Referentin und Schüler lachen mit. Mit Schülerstreichen kann jede Generation etwas anfangen.
Kupilíková, die früher für Puppen Kleider genäht hatte, machte später eine Ausbildung zur Damenschneiderin in einem Vorort von Komotau.“ Als sie dann ihren ersten Mann kennenlernte, war auch das nicht einfach: „Weil meine Eltern wollten, dass ich mir einen Deutschen suchen würde, um die Nationalität zu erhalten.“ Sie setzte sich durch, heiratete ihren Tschechen und ließ sich auch wieder scheiden. Aber sie ist stolz: „Ich habe einen Sohn, der ist Unternehmer. Er hat eine tolle Frau, zusammen haben sie zwei Kinder.“ Sie selbst ist heute Rentnerin, geht gern schwimmen und zur Massage.
Spätestens bei den Schulstreichen tauten alle auf. Am Ende liest und übersetzt Kupilíková noch einen Liedtext aus dem Dialekt-Liedbuch „Textbichl“ von Horst Kunz – passend zum damit endenden Workshop über ein deutsch-tschechisches Begegnungszentrum:
„Auf Burg Hoh’nberg an der Eger, ganz nah an der Grenze,
bau’n wir Brücken nach dem Osten – hoffen auf Europa.
Geschichte und Kultur soll’n gelten gemeinsam im Osten und Westen –
Europa, Burg Hohenberg.“
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