Vor vier Jahren gründete die Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland die Initiative „#JungesNetzwerk“ zur Förderung deutscher Kulturvereine in Lateinamerika. Wir haben mit dem stv. Geschäftsführer und Projektleiter Dr. Marco Just Quiles über die Stiftungsarbeit und die Zukunft deutschsprachiger Gemeinschaften und deutscher Minderheiten im Ausland gesprochen.

LE: Was war die grundlegende Motivation zur Gründung von „#JungesNetzwerk“?

Im Jahre 2018 wurde der damalige Bundesbeauftragte für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten und Ratsvorsitzende der Stiftung Verbundenheit, Hartmut Koschyk, von Vertretern des Dachverbandes deutsch-argentinischer Vereinigungen FAAG gebeten, sich für die fast 200 deutschsprachigen Kulturvereine in Argentinien einzusetzen. Diese hatten bis zu diesem Zeitpunkt kaum Kontakt zu deutschen Auslandsinstitutionen und waren zudem mit akuten Herausforderungen, wie den überalterten Mitgliederstrukturen und ausbleibenden Modernisierungsimpulsen konfrontiert. Auf die Bitte des Dachverbandes haben wir zunächst eine wissenschaftliche Studie durchgeführt, die neben den Herausforderungen – insbesondere der Nachwuchsproblematik – das große Potential der deutschsprachigen Vereine als Multiplikatoren der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik (AKBP) identifizierte. „#JungesNetzwerk“ war unsere Antwort auf die Frage, wie wir junge Menschen mit und ohne Deutschlandbezug für die Arbeit der deutschen Kulturvereine begeistern können. Bedenkt man, dass ca. 1,5 Millionen Menschen in Argentinien einen deutschsprachigen Hintergrund haben, ist das Potenzial immens. 

In den folgenden Jahren konnten die Lateinamerika-Aktivitäten der Stiftung Verbundenheit dank der Unterstützung aus dem Deutschen Bundestag, insbesondere seitens der damaligen Chefhaushälter für das Auswärtige Amt, Alois Karl und Doris Barnett, und dessen Nachfolgern, Jamila Schäfer MdB, Wiebke Papenbrock MdB und Otto Fricke MdB, stetig ausgebaut werden. Auch weitere Abgeordnete, wie die ehemalige Vize-Bundestagspräsidentin Ulla Schmidt, der jetzige Transatlantik-Koordinator der Bundesregierung, Michael Link MdB, sowie der Vizevorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Th omas Erndl MdB, unterstützen die Stiftungsarbeit in Lateinamerika. 

LE: Die Initiative „#JungesNetzwerk“ geht heute schon weit über Argentinien hinaus, oder?

Nach dem Gründungskongress 2019 mit 45 Mitgliedern in der Stadt Rosario haben wir schnell gemerkt, dass wir eine Nische füllen: junge Menschen in der Projektentwicklung zu Themen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik zu begleiten, und diese mit den deutschen Kulturvereinen aber auch den Auslandsinstitutionen, wie den deutschen Botschaften, zu vernetzen. Dann kam die Pandemie. Wir haben es jedoch schnell geschafft, diverse Online-Formate zu entwickeln. Das hat uns ein viel größeres Publikum verschafft, auch in Ländern, die keine klassische deutsche Einwanderung aufweisen, z. B. Bolivien. Hier konnten wir dann auch Ende 2020 den ersten Kongress durchführen. Dazu kamen im darauffolgenden Jahr Paraguay, Chile und Uruguay. Heute hat unsere Initiative mehr als 1700 Mitglieder in 13 Ländern Lateinamerikas.

Dr. Marco Just Quiles ist stellvertretender Geschäftsführer und Leiter der Lateinamerika-Arbeit der Stiftung Verbundenheit. Zuvor war der promovierte Politikwissenschaftler an der Freien Universität im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit sowie als Organisationsberater tätig. Foto: Stiftung Verbundenheit

LE: Wer sind die Mitglieder der Initiative? Es klingt so, als hätten nicht alle einen deutschsprachigen Hintergrund? 

Viele kommen aus dem „Dunstkreis“ deutscher Auslandsinstitutionen. Darunter sind ehemalige Schüler von Deutschen Schulen, DAAD-Stipendiaten, aber auch Personen, die in Deutschland gearbeitet oder studiert haben, dann nach Lateinamerika zurückkehren und weiterhin im Austausch bleiben möchten. Dann gibt es auch Mitglieder, die biografische Beziehungen [nach Deutschland] haben oder deren Eltern in einem deutschen Kulturverein aktiv sind.  Eine dritte Gruppe sind Mitglieder, die keine direkte Einwanderergeschichte haben, sich aber sehr für die Themen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik (AKBP) und für einen Kultur- und Ideenaustausch mit Deutschland interessieren. 

LE: Welche Themen sind das? 

Wir arbeiten in sechs zentralen Feldern: Kultur, Sprache, Umwelt, Soziales, Bildung sowie Pluralität, also Themen wie Meinungsfreiheit, Geschlechtergerechtigkeit und Demokratie. Letztere Felder sind erst kürzlich in die AKBP aufgenommen worden. Wir erreichen mit dieser Themenbreite ein wesentlich größeres Publikum, da wir uns nicht primär nur für die deutsche Sprach- und klassische Kulturvermittlung einsetzen. 

LE: Wie funktioniert es, junge Menschen in Vereinsstrukturen einzubinden?

Ein Verein kann langfristig nur überleben, wenn er eine Politik der offenen Türen betreibt. Die typischen Einwanderervereine haben sich damals gegründet, um ihre Einwandererkultur zu schützen. Wenn man aber die Türen nicht öffnet, bedeutet dies mit der Zeit, dass immer weniger Personen im Kreise dieser Vereine aktiv werden können. Wir arbeiten mittels Seminare und Kongresse daran, diese Offenheit zu stärken. Damit stoßen wir moderne Projekte in den Vereinen an, die die Traditionspflege komplementieren. Beispiele sind Informationskampagnen über aktuelle Trends in Deutschland, Umweltschutzaktionen oder kontemporäre Kulturveranstaltungen. Damit wollen wir auch Andockungspunkte zwischen „#JungesNetzwerk“ und den Vereinen schaffen. In der Folge gemeinsamer Projekte sehen wir mittlerweile, dass sich Mitglieder von #JungesNetzwerk in die Vereinsarbeit einbringen. Natürlich respektieren wir dabei die Grenzen und Interessen der Vereine. Es ist klar, dass sich nicht alle Vereine der gewünschten Offenheit verschreiben. Und das ist auch in Ordnung.

LE: Wenn Sie diese Ideen vor Ort präsentieren, rennen Sie da offene Türen ein oder stoßen Sie auch auf Widerstände? Wie umgehen Sie diese?

In Lateinamerika funktioniert unser Konzept, das wir mit dem Begriff der „Bürgerdiplomatie“ beschreiben, sehr gut. Natürlich unterscheiden sich die Länder. In Argentinien und Chile sehen wir beispielsweise eine starke Offenheit. Das liegt auch daran, dass der Kulturenmix bei jedem Argentinier und Chilenen in der eigenen Familie sehr präsent ist. Wir sprechen von Einwanderergesellschaften. Die Realität der deutschen Minderheiten [in Mittel- und Osteuropa; Anm. d. Red.] ist hier vielleicht ein wenig anders. Die historischen Gegebenheiten haben eine etwas defensivere Grundhaltung herbeigeführt. In Südamerika herrscht hingegen eine gewisse Unbeschwertheit, was das Ausleben der kulturellen Identität angeht. 

LE: Bei Ihren Tätigkeiten in Lateinamerika sprechen Sie von deutschsprachigen Gemeinschaften. Worin liegt der Unterschied zu deutschen Minderheiten?

Der Begriff „deutsche Minderheit“ bezieht sich auf die historischen deutschen Minderheiten in Mittel-, Osteuropa und den GUS-Staaten. In Lateinamerika gab es hingegen im 19. und 20. Jahrhundert klassische Einwanderungswellen. Diese Gruppen waren nie autochthone Minderheiten. Darüber hinaus umfasst der Begriff „deutschsprachige Gemeinschaften“ auch Personen, die eine andere Verbindung zu Deutschland haben, z. B. als Absolventen von deutschen Schulen oder Mitgliedern deutscher Vereine, und keinen Einwanderungshintergrund aufweisen. Dazu zählen für uns auch Personen, die sich für den Kulturaustausch mit Deutschland einsetzen. Diese Personen können, genauso wie Nachfahren von deutschen Einwanderern, wichtige Bürgerdiplomaten sein. Im Übrigen haben wir diese Gemeinschaften nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in den USA und einigen Ländern Afrikas. Wir stehen somit an einem interessanten Punkt: Wir setzen uns als Stiftung nicht nur für die Belange der etwa einer Million Angehörigen der deutschen Minderheit im Osten ein, sondern möchten auch mit deutschsprachigen Gemeinschaften in der gesamten Welt zusammenarbeiten, die wir auf ca. 55 Millionen Menschen schätzen. Eine riesige Gruppe, die bisher noch nicht in dieser Weise betrachtet wurde. 

LE: Auf welches Deutschlandbild trifft man in Südamerika?

Grundsätzlich gibt es eine große Sympathie für Deutschland. Man sieht Deutschland als Wirtschaftsmacht, als Ort der kulturellen Vielfalt und als Land des Fußballs. Zudem wird Deutschland oft mit populären Traditionen assoziiert. Oktoberfeste sind in ganz Lateinamerika sehr beliebt. Deswegen orientieren sich viele deutsche Kulturvereine an diesen stereotypischen Bildern. Wir möchten zeigen, dass ein deutscher Kulturverein mehr sein kann als Tradition. Traditionspflege ist gut, um Menschen aus der gesamten Bevölkerung anzusprechen. Wenn es ein Verein dann schafft, ein Sprachrohr und Verbindungsakteur zwischen dem Heimatland und Deutschland zu werden, ist dies aus unserer Sicht ideal. Dies ist die oft zitierte, aber häufig nicht mit Inhalten gefüllte Brückenfunktion. Wir verwenden deswegen lieber den Begriff der Bürgerdiplomatie: Deutschsprachige Gemeinschaften können wichtige Multiplikatoren der internationalen Beziehungen werden und dazu beitragen, eine gemeinsame Wertebasis z. B. im Bereich der Meinungsfreiheit, der Menschenrechte und des Umweltschutzes, zwischen den Gesellschaften ihrer Heimatländer und Deutschland zu stärken. 

LE: Bei welchen Themen funktioniert diese Bürgerdiplomatie gut?

Ich möchte da ein konkretes Beispiel nennen, nämlich den deutschen Verein in San Justo, Santa Fe in Argentinien. Umweltschutz ist ein Thema, bei dem Deutschland versucht, Vorreiter in der Welt zu sein. Also hat auch der Verein das Thema Ökologie aufgegriffen. In der 30 000-Einwohner-Gemeinde wurde in Kooperation mit der Stadtverwaltung ein Autofreier Sonntag organisiert, mit Veranstaltungen rund um das Thema Nachhaltigkeit. Natürlich wurden dabei auch Bratwurst und Sauerkraut verkauft. Ein perfektes Beispiel, wie Traditionspflege mit modernen Themen, unter Einbindung einer großen Anzahl an Menschen verknüpft werden kann. Dabei sehen wir in der Praxis: Je pluraler und je moderner das Auftreten eines Vereins, desto größer sind die Anknüpfungspunkte mit der Gesellschaft des Heimatlandes. In San Justo erfreut sich der deutsche Verein heute über ein sehr hohes Ansehen in der Gemeinde. 

Bei den „Tagen der Verbundenheit” in Bayreuth 2023 gab es ein Weltcafé mit Mitgliedern des #JungesNetzwerk aus Südamerika und Deutschland. Foto: Stiftung Verbundenheit

 LE: Wie werden die Lateinamerikaaktivitäten der Stiftung Verbundenheit in Deutschland aufgenommen? 

Wir arbeiten stark daran, informativ tätig zu sein. Nicht nur im Deutschen Bundestag oder bei den verschiedenen Ministerien, die unsere Arbeit finanzieren, sondern auch in der allgemeinen Bevölkerung. Die erste Reaktion ist oft eine Verwunderung, dass es in Lateinamerika so viele Personen gibt, die sich gegenüber Deutschland positiv positionieren und dann auch noch organisiert sind. Die zweite überraschende Reaktion ist, dass wir eine so an der Aktualität orientierte Arbeit mit den Vereinen betreiben. Außerdem ist man häufig erfreut wie groß die Reichweite unserer Netzwerkarbeit, insbesondere außerhalb der Metropolregionen ist. Damit erreichen wir oftmals viel breitere Gesellschaftsschichten als die Mittlerorganisationen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. 

LE: Finanzen sind bei der deutschen Minderheit in Ostmitteleuropa oft ein kritischer Punkt. Wie schaffen Sie es, auch mit einem kleinen Budget effektiv zu arbeiten? 

Es hat stark damit zu tun, wie Motivation generiert wird. Einen neuen Ansatz zu verfolgen, ruft häufiger Handlungseuphorie hervor als dort, wo wir es mit über einen langen Zeitraum gewachsener Strukturen zu tun haben. Wir bekommen von den deutschen Minderheiten häufig widergespiegelt, dass ihnen die definierten Arbeitsfelder im Rahmen der offiziellen Förderprogramme wenig Gestaltungsfreiraum lassen und damit auch die Kapazität mit kreativen Formaten eingeschränkt ist, um potenzielle Freiwillige für die Arbeit zu begeistern. Im Rahmen unserer Mittlertätigkeit für das Bundesministerium des Inneren und für Heimat versuchen wir die Kreativität für neue und förderkonforme Projekte zu unterstützen. Oftmals können dabei kostenneutrale Projekte helfen, den Ideen freien Lauf zu lassen. Zum Beispiel können Social-Media-Beiträge in Form von Straßenumfragen, Tik-Tok-Videos, Online-Events oder Interviews mit Influencern einen großen Effekt zum Nullpreis haben. Hier versuchen wir mit konkreten Beispielen aus Lateinamerika aber auch aus unserer eigenen Stiftungsarbeit voranzugehen. Die große Herausforderung – sowohl für die deutschen Minderheiten als auch für die deutschsprachigen Gemeinschaften – besteht darin, sich von den Aktivitäten her so breit aufzustellen, dass man bei einer Mittelkürzung trotzdem weiterhin wirksam sein kann. Daher sehen wir so viel Potential in der Arbeit mit ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Ich denke, dies wird ein wichtiges Entwicklungsfeld für die deutschen Minderheiten im Osten werden.

LE: Inwiefern plant die „Stiftung Verbundenheit“, ihre Aktivitäten und Strukturen – auch örtlich – in Ost und West auszubauen? 

Wir haben nicht vor, unsere Bürostrukturen zu ändern. Wir sind eine sehr schlanke, aber effektive Organisation. Dank des intensiven Austauschs mit den deutschen Minderheitenverbänden und -organisationen brauchen wir – anders als andere Mittlerorganisationen – keine Auslandsbüros. Wir möchten in Zukunft noch mehr Formate schaffen, in denen Vertreterinnen und Vertreter deutscher Minderheiten und deutschsprachiger Gemeinschaften aufeinandertreffen, wie wir es jetzt bei unseren kürzlich umgesetzten „Tagen der Verbundenheit“ gesehen haben. Dort haben sich auf Einladung der Stiftung Vertreter aus verschiedenen Ländern des Ostens, aus Lateinamerika und den USA ausgetauscht und zusammen Projektideen erarbeitet. Es wird die Aufgabe der Stiftung Verbundenheit sein, einen Bogen zwischen Ost und West, Jung und Alt und damit auch zwischen verschiedenen Realitäten und Meinungsbildern zu schlagen. Diese Meinungsbilder sind nicht immer kompatibel. Der konstruktive Umgang mit dieser Meinungsdiversität ist ganz zentral für unsere Arbeit. Wir sehen, dass unser Ansatz der Bürgerdiplomatie im wahrsten Sinne des Wortes nicht nur deutschsprachige Gemeinschaften und deutsche Minderheiten mit Deutschland verbindet. Unsere Partner können und sollen auch eine wichtige Rolle für das gesellschaftliche Zusammenleben in ihren Heimatländern einnehmen. Je stärker sich der Ansatz der Bürgerdiplomatie in den Aktivitäten der deutschsprachigen Gemeinschaften und deutschen Minderheiten widerspiegelt, desto relevanter wird ihre Rolle. Unsere Gesellschaften brauchen Bürgerdiplomaten. Die deutschen Minderheiten und deutschsprachigen Gemeinschaften in der Welt haben wichtige Qualitäten, um diese pazifizierende Rolle einzunehmen – innerhalb ihrer Heimatländer sowie zwischen ihren Heimatländern und Deutschland.

Dieser beitrag erschien zuerst in der landesecho-ausgabe 9/2023

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