Der von Vertriebenen aus Gablonz gegründete Kaufbeurener Stadtteil Neugablonz feierte im September sein 75. Jubiläum. Unter den Ehrengästen war auch Altbundespräsident Joachim Gauck. Teil des Programms war außerdem eine Buchvorstellung zu Sagen und Märchen aus dem Isergebirge.
Es ist inzwischen längst zur schönen Tradition geworden, dass eine Bürgerdelegation aus Jablonec nad Nisou (Gablonz) einmal im Jahr in die bayrische Partnerstadt Kaufbeuren reist. Nach der zwangsweisen Corona-Pause fieberten Organisatorin Petra Laurin, Leiterin des Hauses der Deutsch-Tschechischen Verständigung in Reinowitz (Rýnovice), und ihre Stammgäste diesmal den bevorstehenden Tagen ganz besonders entgegen. Galt es doch, gemeinsam das 75. Jubiläum des Stadtteils Neugablonz zu feiern, das eigentlich schon 2021 fällig gewesen wäre, aber ebenfalls der Pandemie zum Opfer fiel. Nun konnte es am zweiten Septemberwochenende als fünftägiges „Neugabiläum“ endlich nachgeholt werden. Ein Blick zurück.
Neue Heimat Neugablonz
Nach dem Ende des unseligen Zweiten Weltkrieges und der damit verbundenen Vertreibung wurden große Teile der ursprünglichen deutschen Bevölkerung aus dem Isergebirge, der heutigen Region Reichenberg (Liberec) und Gablonz hier, am Stadtrand von Kaufbeuren angesiedelt. Ihr neues Zuhause waren die Trümmer einer zerstörten Munitionsfabrik. Doch sie legten nicht zitternd und zagend die Hände in den Schoß, sondern nahmen ihr Schicksal in die Hand, denn sie hatten nicht nur Trauer und Leid über das eigene Schicksal mitgebracht, sondern auch den festen Willen, eine bessere Zukunft zu gestalten. So schufen sie aus Trümmern gemeinsam eine neue Heimat, den heute größten und wichtigsten Stadtbezirk Kaufbeurens.
Wanderausstellung über die Deutschen aus dem Isergebirge zu Gast in Neugablonz
Höhepunkt war das große Bürgerfest am Sonntag, den 11. September. Buntes Treiben herrschte auf dem Platz vor dem Gablonzer Haus. Hier befindet sich auch das Museum des Isergebirges, in dem während der Festtage die vielbeachtete Wanderausstellung über das Schicksal der Deutschen aus dem Isergebirge gezeigt wurde. Diese Exposition wurde übrigens ebenfalls unter maßgeblicher Führung von Petra Laurin sowie Irena Novák, langjährige Vorsitzende des Kulturverbands der Deutschen und Freunde der deutschen Kultur, und der Ethnologin Christa Petrásková konzipiert und zusammengestellt.
Altbundespräsident Joachim Gauck unter den Ehrengästen
Nach einem ökumenischen Gottesdienst am Vormittag unter freiem Himmel, den die Geistlichen aller Konfessionen zelebrierten, trafen verschiedene Blaskapellen aus dem Allgäuer Raum auf dem Festplatz ein. Sie hatten zuvor einen Sternmarsch durch die Stadt absolviert. Besonderen Beifall erhielten dabei die Musikanten der Musikvereinigung Neugablonz und der „Mladá dechovka Jablonec nad Nisou“, die zum Zeichen ihrer langjährigen engen Verbundenheit gemeinsam aufmarschierten. Sie sorgten dann auch während der anschließenden Festveranstaltung für den sprichwörtlichen guten Ton. An der Spitze der inzwischen eingetroffenen Ehrengäste stand Altbundespräsident Joachim Gauck, gefolgt vom bayrischen Gesundheitsminister Klaus Holetschek, den beiden Stadtoberhäuptern Stefan Bosse und Jiří Čeřovský sowie der tschechischen Generalkonsulin Ivana Červenková.
Besonderer Ehrengast war Altbundespräsident Joachim Gauck, hier im Gespräch mit den beiden Stadtoberhäuptern Stefan Bosse und Jiří Čeřovský. Foto: Rolf Hill
In bewegenden Worten schilderte Joachim Gauck in seiner Festrede noch einmal die Situation, der sich die vertriebenen Gablonzer bei ihrer Ankunft in Kaufbeuren gegenübersahen. Statt zu verzagen, hätten sie auch Tatkraft und Optimismus mitgebracht, sagte er. Dafür gebühre ihnen noch heute Respekt und Anerkennung. Buchstäblich aus „Dreck“ fingen sie an, etwas zu machen, was man verkaufen kann. Sie bemalten alte Wehrmachtsknöpfe, gestalteten einfache Schmuckstücke aus Blechdosen und ließen so ein kleines Wirtschaftswunder entstehen. Das sei letztlich der Grundstein dafür gewesen, die heimische Bijouterie- und Glasindustrie hier im Allgäu wieder auferstehen zu lassen. Natürlich habe es unter den Alteingesessenen auch Vorbehalte gegen die Neuankömmlinge gegeben, räumte er ein. Das zeige sich auch heute wieder, nicht zuletzt in dieser Stadt, wo Menschen unterschiedlichster Herkunft leben. Doch er sei überzeugt davon, dass die Neugablonzer genau wie damals ihre Eltern Lösungen finden werden. Ein klares Bekenntnis legte Gauck bezüglich des russischen Angriffs auf die Ukraine ab. Politik müsse durch Wahrheit geprägt sein, sagte er. Dazu gehöre auch, dass der Aggressor nicht auf einer Stufe mit dem Opfer stehen könne. Macht dürfe nicht über dem Recht stehen. Deshalb sei es unbedingt nötig, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie sich wirklich verteidigen könne.
Buchvorstellung: Sagen und Märchen aus dem Isergebirge
Für die Delegation aus Gablonz brachte der Nachmittag einen weiteren Höhepunkt. Petra Laurin stellte im Saal des Gablonzer Hauses gemeinsam mit der Illustratorin Monika Hanika ihr neues zweisprachiges Buch „Sagen und Märchen der Deutschen aus dem Isergebirge“ vor. Bevor in einer Lesung einige Ausschnitte zu Gehör gebracht wurden, erfolgte nach tschechischer Sitte die feierliche Taufe des Buches durch Oberbürgermeister Stefan Bosse und seinen Amtskollegen Primator Jiří Čeřovský. Natürlich erhielten beide – wie schon zuvor Joachim Gauck – ein signiertes Exemplar als Geschenk.
Die Präsentation des neuen Buches von Petra Laurin und Monika Hanika begann mit der feierlichen Taufe durch Stefan Bosse und Jiří Čeřovský. Foto: Rolf Hill
Natürlich kam es außerhalb dieses Festaktes zu vielen herzlichen Begegnungen der tschechischen Gäste mit alten Bekannten von früheren Besuchen in der Partnerstadt. Schließlich hatte man sich lange nicht mehr gesehen. Zudem wurden neue Bekanntschaften geknüpft. Ein besonderer Höhepunkt zum Abschluss des Aufenthalts war die Busfahrt durch das Allgäu hinüber nach Oberstdorf, wo es bei herrlichstem Kaiserwetter mit dem Lift hinaus zum 2224 Meter hohen Gipfel des Nebelhorns ging. Mit vielen neuen Eindrücken kehrten alle am Dienstagabend wohlbehalten ins heimische Gablonz zurück.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Oktober-Ausgabe des LandesECHO.