Der alte deutsche Friedhof in Schemmel war längst vergessen, als eine einheimische Unternehmerin begann, ihn sprichwörtlich auszugraben. Heute stehen wieder Grabsteine und sogar eine neue Kapelle.
Ideales Pilzwetter. Nach einem Schauer versprechen die dichten Wälder rund um Tetschen (Děčín) Pilzfreunden maximalen Sammelerfolg. Auch den Hang über dem Dorf Schemmel (Všemily) hätten vor ein paar Jahren um die Zeit noch Scharen von Pilzliebhabern bevölkert. Doch heute findet man statt Stein- und Blätterpilzen neu errichtete Kreuze, eine komplett neue Friedhofskapelle und einen nigelnagelneuen Zaun, auf dem der Lack kaum getrocknet ist. Und nach 70 Jahren, in denen der Friedhof langsam in Vergessenheit geriet, ist sogar das erste neuzeitliche Begräbnis geplant. Zu den 95 deutschen Gräbern kommt in diesem Jahr das erste tschechische dazu.
Wertvolle Gräber wurden fachgerecht wiederhergestellt. Foto: Michaela Danelová
Kühe grasen zwischen Gräbern
Wie die prächtigen Blockhäuser vermuten lassen, war Schemmel einst ein ausschließlich deutsch bevölkertes Dorf. Nach dem Krieg wurden alle hiesigen Deutschen abgeschoben und in ihre Häuser zogen vor allem Wochenendhäusler. In den 1950er Jahren rissen die Kühe der örtlichen LPG die Friedhofsmauer ein und begannen zwischen den Gräbern zu weiden. Dabei wurden auch einige Grabsteine umgerissen. Einige Einheimische nahmen das als Einladung an, die umgekippten Gräber auseinanderzunehmen. Aus den Grabsteinen bauten sie neue Häuser und Wege. „Der Rest wuchs mit der Zeit zu und als ich in den 1990er Jahren hierherzog, wussten die meisten Einwohner schon nicht mehr, dass hier jemals ein Friedhof war“, sagt die energische Mittvierzigerin Renata Hergetová. Dieser Frau verdankt der Friedhof, dass er sprichwörtlich aus der Erde herausgegraben wurde.
Auch Details von Gräbern konnten gerettet werden. Foto: Michaela Danelová
Mit ihrem Mann betrieb Hergetová in der Nähe eine Pension mit einer Gaststätte und einer der Stammgäste hatte einmal erwähnt, dass die überwucherten Halden im Wald hinter dem Dorf Dutzende, wenn nicht Hunderte Gräber der Deutschen verdecken. Lange Jahre war Frau Hergetová durch den Betrieb der Pension komplett ausgelastet. Nachdem sie die Pension verkauft hatten, beschloss sie, mit dem Hang hinter dem Dorf endlich etwas zu unternehmen. „Dass hier Deutsche lebten, kann keiner ungeschehen machen. Bis heute leben wir in ihren Häusern, laufen auf ihren Wegen, die sie gebaut haben, arbeiten auf Feldern, die sie urbar gemacht hatten“, erklärt sie. „Also, lassen wir das doch einfach zu und bewahren wir ihr Erbe auch für weitere Generationen.“
2012 holte sie sich die Zustimmung der Gemeinde. „Mit ihrer Energie riss sie die Gemeindevertreter mit“, erinnert sich Bürgermeister Marek Kny. Hergetová hatte schon vorher bei Arbeitseinsätzen in der nahen Grundmühle (Dolský mlýn) geholfen. Unter den Freiwilligen, die dort halfen, fand sie die ersten Helfer für die Arbeiten auf dem Schemmeler Friedhof. Weitere kamen über Mund-zu-Mund-Propaganda oder Facebook hinzu.
Die „Totengräber“ rücken an
Schwere Tätigkeiten wie das Ausgraben von Grabsteinen, die Beseitigung von Wildwuchs und das Zusammenfügen von Teilen einzelner Gräber erledigten die „Totengräber“, wie sich die Gruppe nannte, selbst. „Anfangs waren wir nur mit einer Sichel ausgestattet. Dann kaufte ich von unserem Geld wenigstens eine Heckenschere“, muss Hergetová lachen. Aufwändige Reparaturen der Grabplatten mussten sie aber Experten überlassen. Also vertiefte sich die Unternehmerin das erste Mal in ihrem Leben in die Akquise von Fördermitteln und Zuschüssen. Wiederholt bekam sie Unterstützung von den Stiftungen Ústecká komunitní nadace und Via, vom Bezirk Ústí, der Gemeinde und aus Kleinspenden. Nach und nach konnten so 95 Grabstätten restauriert und ein neues geweihtes Kreuz aufgestellt werden.
Auch einige Einheimische machten mit. Nicht alle waren aber anfangs begeistert. „Für sie war das hier eine gute Pilzstelle. Andere beschwerten sich, dass wir hervorragende Brombeeren rausreißen, die aber den Großteil des Wildwuchses bildeten“, erinnert sich Hergetová. Heute haben sich die meisten dran gewöhnt und Hergetová wurde sogar zur stellvertretenden Bürgermeisterin gewählt.
Für Renata Hergetová ist der Friedhof zu einem Ort der Einkehr und Erkenntnis geworden. Foto: Michaela Danelová
Die Arbeit hört nicht auf
Auch wenn niemand von den „Totengräbern“ deutsche Wurzeln hat, treffen sie sich schon seit acht Jahren regelmäßig zum Arbeiten. Sie sind um die 20 Leute und halten das auch so, nachdem das letzte auffindbare Grab wieder aufgestellt war. Sie mähen Gras, pflanzen Blumen und versuchen, die letzten Grabsteine und -platten wieder in Ordnung zu bringen. In den letzten zwei Jahren bauten sie außerdem auf den Fundamenten der früheren Leichenhalle eine neue Kapelle. Finanziert wurde der Bau im Wert von fast 400.000 Kronen vor allem durch die Gemeinde Dittersbach (Jetřichovice), den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und den Heimatverband Kreis Tetschen-Bodenbach, e.V. in Nördlingen. Das waren die ehemaligen Landsleute, die aus dem Kreis Tetschen nach Deutschland abgeschoben wurden. Da die meisten Mitglieder schon sehr alt sind, entschied der Verein, sich aufzulösen. 2.000 Euro, ein Teil des Geldes des Heimatkreises, spendete er den „Totengräbern“.
Statt der Leichenhalle wurde eine Kapelle neu gebaut. Foto: Michaela Danelová
Dank aller Spender krönt den Friedhof heute an seinem höchsten Punkt ein einfacher weißer Bau, auf dessen Innenwand die Aufschrift: „Zur Erinnerung an alle, die in Schemmel lebten und starben“, in deutscher und tschechischer Sprache steht. „Eine Leichenhalle würde heute keine Nutzung finden, aber eine Kapelle schon“, erklärt Hergetová. Die Kapelle dient der Einkehr und auch bei Trauerfeiern. Der Gruppe gelang nämlich die Wiedererlangung des Beerdigungsrechts. Bis Ende des Jahres soll der erste Gestorbene hier begraben werden.
Der Friedhof ist zudem neu von einem Zaun umgeben. Mehr als eine halbe Million Kronen zahlte die Gemeinde zusammen mit dem Ministerium für Regionalentwicklung dafür. Sie soll den Friedhof vor wilden Tieren schützen.
Für die Totengräber ist die Arbeit aber längst nicht beendet. Sie planen die Aufrichtung eines Denkmals für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, weitere Kreuze, Schilder und Metallbänke. Regelmäßig legt Hergetová selbst mit Hand an. Heute helfen ihr zwei Freundinnen, Blumen umzupflanzen und Kerzen auszutauschen. Niemand von ihnen bedauert die Hunderten Arbeitsstunden, die sie in den letzten acht Jahren hier geleistet haben. „Auf diese Weise habe ich gelernt, dass auch hier in den Sudeten Menschen leben, die Lust haben, etwas zu verändern, und das auch außerhalb der eigenen Hausschwelle“, sagt Hergetová und die Freundinnen stimmen ihr zu. „Früher war diese Gegend hier für mich die perfekte Region zum Geld verdienen“, sagt die Unternehmerin. Heute beachtet sie dank des Friedhofsprojektes mehr Dinge, die sie früher nicht wahrgenommen hat. „Ob die Kapelle oder das Kreuz – augenblicklich wirft das in mir Fragen auf. Je mehr ich die Landschaft hier kennenlerne, umso mehr wächst sie mir ans Herz“, sagt sie.