Eine Tagung in Teplitz widmete sich der Frage, wie Vertriebene und Flüchtlinge in der DDR den Kontakt zur alten Heimat in der Tschechoslowakei und in Polen pflegten.

Im Sommer des Jahres 1976 sandte ich auf einer Postkarte, die die Schneekoppe zeigt, „bunte Urlaubsgrüße“ nach Thüringen. Grüße von Heimat zu Heimat. Ich war in den Sommerferien mit meinen böhmischen Großeltern in deren Heimat unterwegs. „Sind von Děčín bis Prag und dann ins Riesengebirge gefahren“, ergänzte meine Großmutter auf der Karte, „Ralf hat viel zu sehen bekommen.“ Auch das Kurstädtchen Teplitz (Teplice).

Dort sitze ich fast ein halbes Jahrhundert später, im Frühsommer 2024, auf einer Tagung, veranstaltet von der Deutschen Gesellschaft in Berlin und der Euroregion Elbe/Labe. Das Thema: „Vertriebene, (Heimweh-)Touristen und ‚Neusiedler‘ in den Grenzgebieten der DDR, der Tschechoslowakei und der Volksrepublik Polen.“ Ich soll ein Gespräch mit Zeitzeugen moderieren. Doch die Zeugen kommen nicht, in ihrem Alter lassen die Gesundheit und andere Gründe solche Reisen kaum noch zu. Wir improvisieren ein Gespräch mit Zeugen aus der nachfolgenden Generation.

Ulrich Miksch, Jahrgang 1968, berichtete von seinem Vater, der unweit, in Wisterschan, dem heutigen Bystřany, geboren wurde. Dorthin reiste die Familie in den 1970er Jahren. Auf dem Friedhof in Šanov – ein Teil von Teplitz – ist nicht nur Mikschs Urgroßmutter begraben, sondern auch der erste Vorsitzende der – in Teplitz – gegründeten Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (DSAP), Josef Seliger. Miksch trat der Seliger-Gemeinde bei, der Nachfolgeorganisation der DSAP, die an die Tradition der sudetendeutschen Sozialdemokratie anknüpft. Anders als der Großteil der Landsleute, die Konrad Henlein, Anführer der Sudetendeutschen Partei, und dann auch Hitler zujubelten, waren die Sozialdemokraten bis zuletzt loyal zum Tschechoslowakischen Staat, der unter Mitwirkung vieler Sudetendeutscher zerschlagen wurde. 

Ulrich Miksch. Foto: Euroregion Elbe/Labe
Ulrich Miksch. Foto: Euroregion Elbe/Labe

Ein Leben zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland

In die Sudetendeutsche Partei war auch mein Großvater Alois Pasch eingetreten, später wurde er Mitglied in der NSDAP. Die Tschechen nannte er ein Volk, „das über keine eigene Kultur verfügt“. Alois stammt aus Komárov, dem Mückendorf bei Trautenau (Trutnov). Er lernte meine Großmutter in den 1930er Jahren in Bodenbach (Děčín) kennen, wo er auf der Höheren technischen Lehranstalt studierte. Bei der tschechoslowakischen Armee freundete er sich mit einem jüdischen Kameraden an: Erich Kohn, dessen Eltern ein Spielwarengeschäft hatten – in Teplitz. In Nordböhmen fand Alois keinen Job, in Deutschland war er erfolgreich.

1938, kurz vor dem Einmarsch von Hitlers Truppen in das Sudetenland, heirateten Marie und Alois, sie zogen ins „Reich“, folgten aber, als Hitler 1939 den Rest der Tschechoslowakei okkupierte, dem „Ruf der Heimat“. Sie blieben in Chemnitz hängen. Von dort wurde Alois 1942 an die Front eingezogen. Kurz danach kam mein Vater zur Welt. Als das „sächsische Manchester” immer öfter bombardiert wurde, ging Großmutter mit meinem Vater nach Bodenbach, dort schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Im Frühjahr 1945 änderte sich von einem auf den anderen Tag alles: die Deutschen wurden abgeschoben. Großmutter floh mit ihrem Sohn zurück nach Chemnitz. Dorthin kam Alois aus der Kriegsgefangenschaft. Die alte Heimat war verloren. Seine Mutter, sein Bruder und dessen Familie mussten auf einen Vertreibungstransport gehen und landeten schließlich in Bayern.

Jahre später, 1965, schrieb Großvater in einem Brief an einen in der Tschechoslowakei verbliebenen Verwandten, er habe den „starken Wunsch“, noch einmal und möglichst bald „meine Heimat wieder aufzusuchen“. Er unternahm mit meinem Vater auf dessen grauer Java eine Rundfahrt. Ich konnte mit meinem Vater darüber nicht sprechen, er starb, als ich sechs war. Meine Heimat-Urlaube freilich hatten Folgen: 2014 veröffentlichte ich ein Buch mit dem Titel „Die Erben der Vertreibung – Sudetendeutsche und Tschechen heute”. Protagonisten aus meiner Generation sprechen darüber, wie sie durch ihre Wurzeln politisch sozialisiert wurden. Mein Großvater behauptet in seinen Memoiren, er sei „politisch passiv“ gewesen, ihn habe als Ingenieur sein Leben lang nur die Technik interessiert. Er war in die Sudetendeutsche Partei eingetreten und in die NSDAP. Passiv war das nicht.

Diskussion um Opfernarrativ

Bei der Heimweh-Tourismus-Tagung in Teplitz lobt der ehemalige Geschäftsführer der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Christoph Lippert, das auch auf Deutsch erschienene Buch „Blutiger Sommer” von Jiří Padevět, das nicht nur die Orte nennt, an denen während der Vertreibung Verbrechen begangen wurden, sondern auch Namen von tschechischen Akteuren. Lippert wünschte sich ein Pendant mit einer Auflistung der von Sudetendeutschen begangenen Untaten. In einer Grundsatzerklärung spricht die Sudetendeutsche Landsmannschaft von „Mitverantwortung“, jedoch auch von angeblicher „Instrumentalisierung“ durch Hitler und Co. Das Opfernarrativ wird auch bei der Teplitzer Tagung gepflegt: Bei einem Stadtrundgang, vorbei am Standort der Synagoge, heißt es, das Gebäude sei „von Nazis aus dem Reich“ angezündet worden. Auf der Gedenktafel ist zu lesen, dass místní nacisté – örtliche Nazis – die Brandstifter waren.

Christoph Lippert. Foto: Euroregion Elbe/Labe
Christoph Lippert. Foto: Euroregion Elbe/Labe

Dieser beitrag erschien zuerst in der landesecho-ausgabe 7/2024

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