Am 4. März 1919 besiegelten Dutzende Tote das Schicksal der deutschen Minderheit innerhalb der neu gegründeten Ersten Tschechoslowakischen Republik.

Tschechien hat im vergangenen Jahr im großen Stil das 100-jährige Jubiläum seiner der Unabhängigkeit gefeiert. An jenem 28. Oktober 1918 war jedoch Einiges noch ungewiss. Monarchie oder Republik? Was passiert mit den geltenden Gesetzen und der Währung Krone? Welche Territorien sollen dazu gehören? Sollte man vielleicht noch die Glatz (Kłodzko, heute Polen) oder die Lausitz anschließen? Man dachte sogar an einen Korridor durch Österreich bis an die Adria! Was mit dem polnischen Teschen (Cieszyn)? Wo verläuft die Grenze in der Slowakei? Wie weit gen Osten soll sich der Staat ausbreiten dürfen? Und was tun mit „unseren Deutschen“? Die tschechische Nationalität sollte ja, vielleicht mit der slowakischen zusammen, noch mehr als 58 Prozent der Gesamtbevölkerung des neuen Staates darstellen. Man wollte nicht den Fehler der Monarchie wiederholen, die „anderen Völker“ zu groß lassen. Langfristig, so dachte man, verdrängt die Mehrheit die Minderheit gegen null. Letztlich bestätige sich diese Annahme, wenn auch erst im Laufe der Zeit.

Keine deutschen Bezirke?

Bis März 1919 wurden all diese Fragen geklärt, auch das Schicksal der deutschen Minderheit. Gleich am 29. Oktober 1918 erklärte sich Deutschböhmen im Nordwesten Böhmens – wohl als Reaktion auf die Übernahme der Regierungsgewalt durch den tschechischen Nationalausschuss in Prag – zum Teil Deutschösterreichs. Landeshauptmann wurde Rudolf Lodgmann von Auen, ein Abgeordneter des Reichsrates und des Böhmischen Landtages. Am 30. Oktober 1918 zogen Nordmähren und Tschechisch-Schlesien unter dem Namen „Provinz Sudetenland“ nach. 

Rudolf Ritter Lodgman von Auen / Foto: ArchivbildRudolf Lodgmann fuhr nach Prag, um Kontakt zum tschechischen Nationalausschuss zu knüpfen und über die Koexistenz beider Völker zu beraten. Die Lage war gespannt. Die Tschechen fürchteten eine scharfe Auseinandersetzung. Der Justizminister der jungen Regierung, Alois Rašín, erklärte daraufhin, dass nichts zu Verhandlung stehe, da „es keine deutschen Bezirke gibt“.

Die stärkste politische Partei stellten damals die Sozialdemokraten. Der deutsche Hauptmann dieser Partei in Böhmen, Josef Seliger, kam am 4. November auch nach Prag. Er hörte von Rašín Folgendes: „Das Selbstbestimmungsrecht ist eine schöne Phrase. Jetzt aber, wo die Entente gesiegt hat, entscheidet die Gewalt.“ 

Die Lage der sogenannten „deutschen Provinzen“ war schwierig, die Versorgung ungenügend. Es herrschten Krankheiten und Hunger. Logistisch wurden sie von Österreich getrennt, wirtschaftlich und politisch waren sie völlig unvorbereitet. Der Anschluss an Deutschland schien vielleicht geographisch logisch, die Siegermächte und die Tschechen hätten diesen jedoch nie zugelassen. 

Am 14. November 1918 versammelte sich die neue Regierung in Prag. Sie bestand aus – ausschließlich tschechischen – 214 Abgeordneten der Wahlen 1911 und 42 kooptierten Slowaken. Das Wort „Revolution“ war ohnehin in aller Munde. Man wollte soziale Gerechtigkeit, Verstaatlichung des privaten Eigentums nach bolschewistischem Vorbild. Überall auf dem Kontinent entstanden revolutionäre Räte aus Arbeitern, Matrosen und Soldaten. Die Tschechoslowakei lag damit völlig im Trend. Frankreich und Großbritannien setzten auf den Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk und Rašín, um die Bolschewiki aufzuhalten. 

Übergangen, übernommen

Viele Jahrzehnte hatte sich das deutsch-tschechische Verhältnis in einer Patt-Position befunden. Mal leisteten die Tschechen im Wiener Reichsrat passive Resistenz, mal die Deutschböhmen im Prager Landtag. Man stritt sich um Sprachgesetze und um den Haushalt, die Sudeten bekämpften sich regelmäßig in Prager Gassen. Diese Erinnerungen prägten die öffentliche Meinung wie die Hungersnot und das sinnlose, hunderttausendfache Sterben im Krieg. Dass der Zeitraum nach dem Wiener Börsenkrach 1873 bis 1913 die erfolgreichste Periode der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens gewesen ist, geriet langsam in Vergessenheit. 

Nach dem Motto „Nur der Staat überlebt, der sich durchsetzen kann“ organisierte man aus den Landesregimentern eine neue tschechische Armee und schuf so vollendete Tatsachen. Man entsandte die Truppen gen Slowakei. Zwischen dem 29. November 1918 und dem 7. Januar 1919 wurden dann auch alle deutschsprachigen, laut Rašín „nicht existierenden“ Gebiete bis zur heutigen tschechischen Westgrenze besetzt.

Die ohnehin schwach konstituierte Verwaltung von Deutschböhmen und Sudetenland brach zusammen. Österreich war zu weit, um Reichenberg (Liberec) oder Eger (Cheb) zu verwalten. Noch heute gehört beispielsweise Freiwaldauer Landkreis (Jeseník) eher zur Neiße-Region als zum weit entferntem Olmütz (Olomouc). Das Prager Tagblatt schrieb am 18. Januar 1919, „es sei besser, eine starke, nicht zu entnationalisierende Minorität von vier Millionen zu bilden, als kleinere Rumpfstaaten ohne Bahnverbindung und ohne Kohle.“

Der Gedanke, irgendein Gebiet an Deutschland anzugliedern, scheint uns heute ketzerisch. In der Zeit, als ganze Imperien zusammenbrachen und der Grenzverlauf sich dramatisch änderte, wäre es nichts Erstaunliches gewesen. Zumal nicht eine Nation – die der Deutschen – in mehreren Staaten (die Schweiz, Österreich, Liechtenstein, Luxemburg, Italien, Belgien) verweilen müsste, sondern in einem hätte zusammengekommen können. Das stand auch hinter dem unglücklichen Beschluss Deutschösterreichs, sich an Deutschland angliedern. Die Siegermächte lehnten es kategorisch ab und die offiziell noch nicht anerkannte Tschechoslowakei fühlte sich bedroht.    

Das deutsche „Restösterreich“ (etwa Österreich in den heutigen Grenzen) führte am 16. Februar 1919 Parlamentswahlen durch. Auf „tschechoslowakischem Territorium“ wurde den Deutschen die Wahl verweigert. Die französische Generalität kam nach Prag, um mit der Organisierung des Heeres zu helfen und ein Signal zu senden, wer jetzt das Sagen hat.

Wirtschaftliche Unabhängigkeit

Die Tschechoslowakei musste sich endgültig auch als Währungs-, Zoll- und Wirtschaftsraum von der ehemaligen Monarchie distanzieren. Der Geldumlauf sollte getrennt werden. Am 25. Februar 1919 wurde die Grenze gesperrt. Jeder sollte auf die Hälfte des Geldes, das er vorlegte, eine Wertmarke bekommen. Die zweite Hälfte wurde wertlos, auch die Guthaben samt der Kriegsdarlehen. Die meisten Deutschen hatten freiwillig, oder gezwungen die Kriegsdarlehen gekauft. Die Tschechen nicht. 

Das Stempeln sollte zwischen dem 3. und 9. März 1919 stattfinden. Die Staatsanwaltschaft machte die deutsche Presse darauf aufmerksam, dass negative Äußerungen über die Währungsreform einem Hochverrat glichen. Die freie deutschsprachige Zeitung „Bohemia“ hatte man sicherheitshalber für mehrere Monate verboten. Am 4. März 1919 sollte das neue Parlament in „Deutschösterreich“ das erste Mal zusammenkommen. Ohne Deutschböhmen. Das waren die eindeutigen Signale für die endgültige Trennung der „böhmischen Kronländer“ von Österreich. 

Schüsse und Tote

Am 27. Februar 1919 tagte das Präsidium der Sozialdemokraten Deutschböhmens unter Josef Seliger und beschloss einen Generalstreik und Massenversammlungen am Dienstag, dem 4. März, mit dem Programmpunkt „Wilsons Forderung nach Selbstbestimmungsrecht und die Lage der Arbeiterschaft Deutschböhmens“ beschlossen. Die anderen deutschen Parteien schlossen sich an. Von den Behörden wurde dieser Generalstreik verboten. Man fürchtete einen bewaffneten Aufstand. 

Josef Seliger / Foto: Archiv FESSchon am 3. März 1919 ließ der tschechoslowakische Militärinspektor für Westböhmen, Oberst Slezáček, einen Aufruf an deutsche Mitbürger plakatieren.  In Eger rissen junge Deutsche diese Plakate ab. Sie wurden verhaftet. Egerer Studenten und Schüler zogen in Richtung Kaserne und forderten die Freilassung. Sie sangen dazu „Wacht am Rhein“ singend. Ausrückendes Militär eröffnet das Feuer. Es gab die ersten zwei Toten.

Am 4. März 1919 demonstrierten dann 9000 Leute in Kaaden (Kadaň). Am Rathausaufgang gerieten Deutsche in Konflikt mit tschechischen Posten. Ein Junge warf mit einem Stück Mörtel nach einem Soldaten. Das Feuer wurde eröffnet. Es gab 25 Tote. Die zweitgrößte Opferzahl, 16, gab es in Mährisch-Sternberg (Šternberk). 

In Karlsbad (Karlovy Vary) versammelten sich 20.000 bis 25.000 Menschen, weitestgehend friedlich. Nach dem Auflösen der Demo kam es erst nahe den Kasernen des tschechoslowakischen Militärs in Elisabethbad und am Hotel Trautwein zu Rangeleien. Die Menge warf Steine. Die Soldaten eröffneten das Feuer, wohl ohne einen Befehl dazu erhalten zu haben. Es gab sechs Tote und neun Verletzte. In Eger gab es zwei Tote, in Mies (Stříbro) ebenfalls und in Aussig (Ústí) einen. Am 5. März noch einen in Karlsbad. 

Es waren eher Exzesse, kein durchdachter Kampf. Das deutschböhmische Bürgertum konnte sich nie sicher sein, wie die verzweifelte Menge unter Kontrolle gehalten werden könnte. Die Staatsmacht beschuldigte die Deutschen und sogenannte „Feinde der Republik“. Außenminister Edward Beneš forderte von den Alliierten ein strenges Vorgehen gegen Deutschösterreich. 

In der allgemeinen Krisenlage in Europa nahm man von den Ereignissen jedoch kaum Notiz. Am 10. September 1919 wurde in Saint-Germain-en-Laye der Friedensvertrag mit Österreich unterzeichnet, der hat auch die Grenzen der Tschechoslowakei endgültig bestimmte. Für die deutsche Minderheit ist dieses umstrittene Datum mit gemischten, eher frustrierenden Gefühlen verbunden. Während für die nationale Elite einer Volksgruppe 1918 ein Traum wahr wurde, begann für eine andere Volksgruppe der Anfang vom Ende ihrer Existenz.

Seit dem 1. März 2019 ist in der Burg von Kaaden die Ausstellung Kaadner März 1919“ zu sehen. 


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