Was passiert, wenn jemand alles über dich weiß? Wer bin ich – und wie viel Wahrheit erträgt eine Familie wirklich? Diesen Fragen geht die Tragikomödie Was Marielle weiß nach, zu sehen beim deutschsprachigen Filmfestival DAS FILMFEST Mitte Oktober in Prag und anderen tschechischen Städten. Unsere Autorin hat sich das Familiendrama vorab angesehen.

Ein schwarzer Bildschirm. Dramatische Musik setzt ein. Das Gesicht der 13-jährigen Marielle (Laeni Geiseler) erscheint. Eine Hand schlägt zu – eine Ohrfeige. Dann: wieder Dunkelheit. Mit diesem dramatischen Einstieg beginnt die Tragikomödie Was Marielle weiß von Regisseur Frédéric Hambalek. Denn seit diesem Schlag ist Marielle nicht mehr dieselbe. Plötzlich besitzt sie telepathische Fähigkeiten – sie hört und sieht alles, was ihre Eltern (Julia Jentsch  und Felix Kramer) denken, tun und – besonders heikel – was sie verbergen. 

Was zuerst wie ein übernatürliches Spiel wirkt, entpuppt sich bald als ernstzunehmende Belastung. Denn durch Marielles Telepathie kommen alle kleinen und großen Lügen, Affären, Zweifel und Widersprüche der Eltern ans Licht. Ehrlichkeit, die eigentlich zum stärkeren Zusammenhalt der Familie führen könnte, bewirkt hier genau das Gegenteil. Mit einem lautstarken „Stopp! Wir beenden dieses wundervolle Spiel – ich habe keine Lust mehr!“ des Vaters nimmt alles seinen Anfang.

Wenn Kinder alles wissen

Julia Jentsch als Mutter – bemüht, die Beziehung zu ihrer Tochter zu retten.
Julia Jentsch als Mutter – bemüht, die Beziehung zu ihrer Tochter zu retten. Credit: https://www.dasfilmfest.cz/de/was-marielle-weiss

In knapp 90 Minuten wird der Zuschauer Teil eines grotesken Wettlaufs, in dem die Eltern ihre Masken und Geheimnisse offenbaren. Getrieben werden sie von der Grundidee des Films, dass Ehrlichkeit ein unverzichtbares Element funktionierender Beziehungen ist – und dass, wenn sie fehlt, eine Beziehung in Frage gestellt werden sollte. Genau diese Botschaft vermittelt auch Marielles Großmutter Anna (Sissy Höfferer) ihrer Enkelin. Das 13-jährige Mädchen, hin- und hergerissen zwischen dem Wissen und dem Wunsch, manches lieber nicht zu erfahren, versucht, ihre Eltern zu dieser Wahrheit zu bewegen. Dabei zeigt der Film eindrücklich, dass Allwissenheit nicht zwangsläufig Befreiung bedeutet, sondern auch Überforderung und den Verlust von Privatsphäre mit sich bringen kann.

Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Rollen wir im Alltag, im Berufsleben und besonders im privaten Umfeld einnehmen – als Mutter, Vater, Ehepartner oder Chef – und wie diese oft nicht mit unseren inneren Bedürfnissen übereinstimmen. Besonders außergewöhnlich ist die Perspektive: Ein Kind gewinnt durch seine neue Fähigkeit Macht über die Erwachsenen. Marielle wird zur stillen Richterin – aber auch zum Spielball innerfamiliärer Konflikte

Klaustrophobische Nähe

Marielle (Laeni Geiseler) thront über der Familie und beobachtet ihre Eltern bei jedem Schritt
Marielle (Laeni Geiseler) thront über der Familie und beobachtet ihre Eltern bei jedem Schritt. Credit: https://www.dasfilmfest.cz/de/was-marielle-weiss

Wie eine überirdische Figur erhebt sich Marielle zwischen den Szenen. Zu sehen ist ihr Gesicht, wie sie über ihre Eltern wacht, untermalt von dramatischer Musik. Die Farben wechseln von Blau zu grellen Tönen wie Orange und Pink, was Marielles Rolle als „allwissende Göttin“ hervorhebt und im starken Kontrast zu der sonst eher unauffälligen Kulisse steht. 

Da es um ein gesellschaftlich relevantes Alltagsthema geht, wurden authentische Umgebungen gewählt: Büro, Schlafzimmer, Esszimmer, Kinderzimmer oder Auto. Auch die Kostüme bestehen ausschließlich aus Alltagskleidung, was passend wirkt und gleichzeitig eine gewisse Ironie enthält. Denn gerade der Hauptplot – dass ein Kind plötzlich telepathische Fähigkeiten entwickelt – ist vollkommen unrealistisch, spielt sich aber in einer durch und durch realistischen Umgebung ab. Das verleiht dem Ganzen eine leicht absurde Note.

Generell ist alles sehr stimmig und realitätsnah inszeniert. Viele Szenen orientieren sich an echten Umständen. Gespräche der Eltern finden meist abends statt –- was logisch ist, da sie sich tagsüber wegen der Arbeit kaum sehen. Der Fokus liegt klar auf dem Schauspiel: Übermäßige Musik wird vermieden, stattdessen dominieren natürliche Geräusche wie eine zufallende Tür oder das Klirren von Geschirr. Die Kameraführung setzt auf viele Nahaufnahmen, sodass man die Eltern stets durch Marielles Augen sieht. Marielle selbst wird nie völlig isoliert gezeigt – ihre Perspektive ist aber stets mitgedacht. Besonders bei gemeinsamen Szenen, etwa beim Abendessen, fühlt sich der Zuschauer, als säße er direkt mit am Tisch. Durch Atemgeräusche, Stille und feine Hintergrundtöne entsteht eine unmittelbare, fast klaustrophobische Atmosphäre.

Starke Leistung, schwache Ausarbeitung

Was weniger gelungen erscheint, ist die Umsetzung von Marielles Rolle im gesamten „Debakel“. Einerseits überzeugt Laeni Geiseler mit der Darstellung ihres inneren Konflikts zwischen kindlicher Neugier und überfordernder Verantwortung. Marielle wandelt sich im Verlauf des Films: Von der zickigen, sich verteidigenden Tochter hin zur still beobachtenden Figur. Besonders gelungen ist, dass sie trotz ihrer „Superkraft“ kindlich bleibt – etwa wenn sie ihren Vater erpresst, ihr das Tablet zu geben. Diese Momente zeigen ihre innere Zerrissenheit zwischen Verspieltheit und Allwissenheit.

Gleichzeitig fällt es schwer, sich in Marielle hineinzuversetzen . Obwohl vieles aus ihrer Perspektive geschieht, erfährt man wenig über ihre Gedanken oder Gefühle – während die Emotionen der Eltern stark spürbar sind. Ihre Distanziertheit verstärkt sich im Verlauf des Films. Gerade weil alles aus ihrer Sicht geschieht, würde man sichr mehr Einsicht in ihr Innenleben wünschen. Die Selbstfindungsphase einer Jugendlichen hätte da mehr Raum verdient.

Felix Kramer als Tobias – zwischen Vaterrolle und Ehemann
Felix Kramer als Tobias – zwischen Vaterrolle und Ehemann Credit: https://www.dasfilmfest.cz/de/was-marielle-weiss

Der Film startet stark, verliert im Verlauf jedoch leicht an Tiefe. Das offene Ende sorgt zwar für Spannung, wirkt aber teilweise unbefriedigend, da viele Fragen unbeantwortet bleiben – etwa, wie es mit dem Job des Vaters weitergeht. 

Zu Beginn treten Mutter und Vater gleich stark auf, doch während die Handlungen der Mutter – etwa ihr Seitensprung – konsequent zu Ende gedacht werden, erscheint die Vaterfigur vergleichsweise schwach. Julia Jentsch überzeugt als Mutter, die glaubt, durch radikale Offenheit die Beziehung zu ihrer Tochter retten zu können – und daran scheitert. Felix Kramer bleibt in seiner Rolle dagegen etwas unklar; es wird nicht deutlich, ob er tatsächlich das Wohl seiner Tochter im Blick hat oder vor allem als „besserer Elternteil“ erscheinen möchte. Schade – gerade in den kleinen, widersprüchlichen Momenten hätte sich hier viel Spannung und emotionale Tiefe entfalten können.

Ist Was Marielle weiß sehenswert?

Insgesamt ist Was Marielle weiß eine ruhige, aber eindringliche Tragikomödie über das Spannungsverhältnis von Wahrheit, Identität und Familienzusammenhalt. Besonders gelungen ist das zeitlose Thema: Der Film bezieht sich auf keinen historischen Kontext und könnte gleichermaßen in Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft spielen. Jede Gesellschaft, jede Familie beschäftigt sich mit der Frage, wie man sich anderen zeigt – und wer man wirklich ist. Wie das scheinbar friedliche Zusammenleben zerbricht, wenn plötzlich jemand alles weiß, wird hier eindrücklich dargestellt.

Besonders empfehlenswert ist der  Film für alle, die Familiengeschichten mit psychologischer Tiefe schätzen. Was Marielle weiß regt zum Nachdenken an: Sind kleine Notlügen manchmal notwendig, um Frieden zu bewahren? Wie viel Ehrlichkeit ist sinnvoll, und in welchem Maß schützen wir uns selbst durch Geheimnisse? Mit diesen Fragen bleiben die Zuschauenden nachdenklich zurück.

Das Familiendrama Was Marielle weiß wurde in Deutschland produziert und feierte seine Premiere bereits im Februar 2025 auf der 75. Berlinale. In den deutschen Kinos startete er am 17. April 2025. Nun ist er auch Teil des 19. Festivals deutschsprachiger Filme DAS FILMFEST, bevor er am 23. Oktober 2025 regulär in die tschechischen Kinos kommt.

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