Einer der größten Mythen der modernen tschechischen Geschichte lautet, dass die Teilung der Tschechoslowakei der Wille der Slowaken war und dass die Tschechen ihrem Wunsch nach einem eigenständigen Staat nur nachgaben, meint unser Autor Luboš Palata.
Nach 2000 habe ich mit vielen direkten Akteuren auf tschechischer wie slowakischer Seite gesprochen. Bei den Slowaken war die Sicht eine andere, beinahe gegenteilige. Die Slowaken wollten damals zwar so viel wie möglich Selbständigkeit, aber bis zu einem eigenen Staat und dem Zerfall der Tschechoslowakei wollten sie es nicht treiben.
Es ähnelte einer Partnerschaft, in der einer getrennte Schlafzimmer vorschlägt, und der andere daraufhin die Scheidung einreicht, zu welcher er den wirtschaftlich schwächeren Partner in dem Bewusstsein drängt, dass ab jetzt alles besser wird, es keinen Streit mehr gibt und er sogar daran verdient.
Gemeinsame Union vor der EU
Doch während Sie im realen Leben ausziehen können, löst sich der Nachbarstaat nicht einfach auf. Wie sich schnell zeigte, fand sich weder für die Tschechen noch für die Slowaken jemand Näheres als der einstige Partner aus der ehemaligen Förderation. Mit den Deutschen, auch jenen in Österreich, verbindet die Tschechen so viel Böses, dass es für 100 Jahre seit Ende des Zweiten Weltkriegs reicht. Mit den Ungarn ist es für die Slowaken gleich noch komplizierter. Der Wunsch, auf die eine oder andere Weise das südslowakische Grenzgebiet an Ungarn anzuschließen, ist aus der Politik von Budapest nie ganz verschwunden und nimmt aktuell sogar eher zu. Und die neue Freundschaft mit Polen, den USA oder Großbritannien ist zu unausgeglichen, als dass sie von beiden Seiten vollwertig sein könnte.
„Es waren Mikuláš Dzurinda und Miloš Zeman, die sich um die Rettung dessen verdient machten, was aus den Trümmern des gemeinsamen Staates übrig geblieben war.“
So lebt die Tschechoslowakei auch 30 Jahre nach ihrem Zerfall in verschiedenen Formen weiter. Um das Jahr 2000 machten sich die zwei damaligen Premierminister Mikuláš Dzurinda und sein tschechisches Gegenüber Miloš Zeman um die Rettung des Wenigen verdient, das aus den Trümmern des gemeinsamen Staates übrig war. Keiner von beiden hatte in der zweiten Hälfte des Jahres 1992 die Auflösung der Förderation unterstützt. Zeman kämpfte für die Fortführung der Tschechoslowakei sogar noch nach ihrem Ende. Als sich beide als Premiers wieder trafen, schlossen sie nicht nur die Teilung des föderativen Eigenrums ab, sondern verabschiedeten auch eine Serie von Verträgen über die Sprachen, Bildung, Pensionen und viele weitere Dinge. Diese bildeten de facto zwischen Tschechien und der Slowakei eine zwischenstaatliche Union, lange vor ihrem eigentlichen Beitritt zur Europäischen Union.
Ein Slowake regiert Tschechien
Damals sah es so aus, als ob das eine Hilfe für die Slowaken auf Kosten der Tschechen war. Prag erließ im Jahr 2000 Bratislava rund 10 Milliarden Kronen Schulden für das Föderationseigentum. Am Ende zeigte sich aber, dass Großzügigkeit zu höheren Gewinnen führt als der kurzsichtige Blick auf den schnellen Erfolg.
Dank der Möglichkeit, kostenlos an tschechischen Hochschulen zu studieren, und des Vertrages, die jeweilige Amtssprache gegenseitig anzuerkennen, wuchs Tschechien in den vergangenen mehr als 20 Jahren um Zehntausende junge Slowaken, die sich nach dem Hochschulstudium entschieden, im westlichen Teil der früheren Slowakei zu bleiben. Als ich selbst nach dem Jahr 2000 für vier Jahre in der Slowakei lebte und arbeitete, hieß es unter den jungen Menschen dort: „Wer es zu etwas bringen möchte, muss in den Westen, mindestens nach Prag“. Das gilt in gewisser Weise bis heute. Tschechien ist die erste Auslandsstation auch für slowakische Ärzte und Schwestern, slowakische Künstler und einen großen Teil der slowakischen Unternehmerelite.
Der Einfluss der Slowaken in Tschechien zeigte sich besonders in den letzten Jahren, als der Slowake Andrej Babiš tschechischer Premierminister war und seine Mitarbeiterin, Adriana Krnáčová, ebenfalls Slowakin, Oberbürgermeisterin von Prag. Dass eine slowakische Herkunft und der Fakt, dass Babiš immer noch sein Tschechisch mit Slowakisch vermischt, bei den Überlegungen, ihn womöglich bei den Wahlen im Januar zum nächsten tschechischen Präsidenten zu wählen, die geringste Rolle spielen, sagt schon viel aus. Neben der Toleranz der Tschechen kommt den Slowaken auch eine gewisse Nostalgie nach dem gemeinsamen Staat zugute. Das betrifft gerade die älteren Wähler, bei denen Babiš seine Basis hat.
30 Jahre nach der Auflösung der Föderation sind nicht nur 30 Jahre Erfolgsgeschichte, weder auf tschechischer, noch auf slowakischer Seite. In den gemeinsamen Beziehungen sollte jener Sonderstatus wieder aufgefrischt werden, der in den letzten Jahren etwas verloren gegangen ist. Denn in Europa finden weder Tschechen noch Slowaken jemand, der besser zu ihnen passt. Auch nicht nach 30 Jahren.
Der Autor ist Europa-Redakteur der Tageszeitung Deník.