Unser Landesblogger Fabian hat sich in Prag auf Stickersuche begeben. Was er dabei entdeckt hat: ein vielfältiges Mosaik aus Subkulturen, politischem Aktivismus, Fußballliebe und urbaner Alltagskultur.
Als R. Stanton Avery 1935 den ersten selbstklebenden Aufkleber erfand, war kaum absehbar, dass daraus einmal ein zentrales Ausdrucksmittel urbaner Subkulturen werden würde. Heute sind Sticker fester Bestandteil des öffentlichen Raums, an Laternen, Stromkästen, Straßenschildern oder auf Kneipenklos. Sticker sind eine zugängliche und oft anonyme Möglichkeit, sich im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Viele werben für Veranstaltungen, Clubs oder Kollektive. Andere verbreiten politische Botschaften, zeigen Vereinszugehörigkeiten oder spielen mit Symbolen der Popkultur. Die Sprache ist kurz und visuell geprägt, denn auffallen ist das Ziel.
Politik im Taschenformat
Wer aufmerksam durch Prag läuft, merkt schnell: Der öffentliche Raum ist nicht nur Werbefläche, sondern auch Sprachrohr für politische Botschaften. In Stadtteilen wie Žižkov oder Holešovice kleben auffällig viele politische Sticker an Laternen und Stromkästen. Besonders präsent sind dabei Antifa-Symbole und klare Botschaften gegen Rechts. Außerhalb dieser Viertel hingegen sind solche Sticker deutlich seltener zu finden. In Anděl, wo ich wohne, begegne ich linken Stickern so gut wie nie.
Der Sticker mit der Aufschrift “Praha vs Airbnb” ist mir in den letzten Wochen immer mal wieder ins Auge gesprungen. Die tschechischen Wörter darauf musste ich zunächst übersetzen:„Ein Treffen für eine Stadt, die den Menschen und nicht dem Kapital dient. Kommt und bekämpft mit uns den Tourismus.“ Dahinter steckt die Initiative „Kolektiv 115“, die sich mit dem Protest gegen die Auswirkungen von Kurzzeitvermietungen auf den Wohnungsmarkt richtet. Wie in vielen europäischen Großstädten wird auch in Prag kritisiert, dass Plattformen wie Airbnb bezahlbaren Wohnraum verknappen und Wohnviertel zunehmend für touristische Zwecke umfunktioniert werden.
Auch andere Sticker verweisen auf gesellschaftliche Konflikte, die über Prag hinausreichen. Besonders häufig zu sehen ist der weiße, runde Sticker „Support Ciocia Czesia“. Dahinter steht eine tschechisch-polnische Initiative, die ungewollt schwangeren Frauen aus Polen dabei hilft, in tschechischen Kliniken einen sicheren Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Hintergrund ist die weitgehende Einschränkung des Abtreibungsrechts in Polen, die legale Eingriffe dort in vielen Fällen unmöglich macht.


Fußball regiert die Laterne
Neben politischen Botschaften dominieren Fußballsticker das Stadtbild. Sticker von Sparta Prag, Slavia Prag und dem kleineren Verein Viktoria Žižkov sind weit verbreitet. Häufig überkleben sie sich gegenseitig, um zu zeigen, welcher Verein den Kiez beziehungsweise das Stadtviertel dominiert.
Sticker gehören zum Alltag vieler Fanszenen. Sie sind nicht nur dekoratives Beiwerk, sondern markieren Reviere, zeigen Zugehörigkeit und machen Präsenz im Stadtbild sichtbar. Am häufigsten begegnet man ihnen rund um Stadien, an Kneipen oder an Haltestellen. Erstaunlich war auch die Menge an deutschen Fußballstickern, die mir begegnet sind. Egal ob Rostock, St. Pauli, Dresden oder Hertha. Es scheint so, als ob Fußballfans ihren Weg durch Europa und die Welt markieren. Und das nicht nur in Prag, sondern in fast jeder Stadt, in der ich bisher war.

Popkultur zum Aufkleben
Daneben gibt es auch eine Vielzahl an Stickern ohne erkennbare Botschaft: Bilder von Katzen, Smileys mit Cowboyhut, Slogans wie „It‘s not a Phase Mom!“. Viele greifen Motive aus Memes oder der Popkultur auf. Sie ergänzen das visuelle Gesamtbild der Stadt, bringen Menschen zum Lachen oder hinterlassen Fragezeichen bei denen, die sie entdecken. Auch wenn sie keine klare Aussage transportieren, haben sie ihre eigene Funktion: Sie schaffen Momente der Irritation oder des Wiedererkennens. Wer die Referenzen versteht, fühlt sich dazugehörig.


Von Berlin bis Prag
Ich habe mich mit der Stickerszene in Prag beschäftigt, weil Sticker für mich ein spannendes Mittel urbaner Kommunikation sind. Sie machen sichtbar, was sonst oft unhörbar bleibt, Subkulturen, politische Haltungen, und das, was Menschen im städtischen Alltag bewegt. In Berlin gehören sie zum Stadtbild, kaum ein Laternenmast ist dort nicht beklebt. Die Motive sind vielfältiger, das Volumen deutlich höher. In Prag wirkt die Stickerzene auf mich zurückhaltender. Vielleicht wird der öffentliche Raum hier strenger reguliert, vielleicht zeigen sich Subkulturen diskreter oder in anderen Ausdrucksformen.
Auch wenn Prag im Vergleich zu Berlin weniger zugeklebt erscheint, erzählen die Sticker dennoch viel über die Stadt: über politische Spannungen, über Fankultur und über das Bedürfnis, sich im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Und gerade weil sie so klein und unscheinbar sind, lohnt es sich, genauer hinzusehen. Für mich erzählen die kleinen Aufkleber oft mehr über eine Stadt, als jedes Denkmal oder jede Postkarte. Egal ob in Berlin oder in Prag.

