Zu den vielen schrecklichen Folgen von Hitlers Krieg und Terror gehörte auch die weitgehende Zerstörung des deutschen Kulturerbes in Prag, das zuvor insbesondere in der Literatur eine große Blüte erfahren hatte. Dieses Erbe zu pflegen oder gar zu fördern ist die verdienstvolle Aufgabe, der sich das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren (auf Tschechisch: Pražský literární dům autorů německého jazyka) in der Ječná 1434/11 in Prag 2 (Neustadt) widmet.

Man braucht nur einige Namen zu nennen, um zu erkennen, was der deutschsprachigen Literatur verloren ging, und welch ein Ort der Weltliteratur Prag damals war. Frank Kafka kommt zuvörderst in den Sinn. Aber auch Rainer Maria Rilke oder Max Brod. Oder Franz Werfel und Gustav MeyrinkEgon Erwin Kisch und Leo Perutz (dessen Buch Nachts unter der steinernen Brücke von 1953, begonnen 1924 mein pragerdeutsches Lieblingsbuch ist) nicht zu vergessen. Und, und, und… In der Nachkriegszeit (und der Vertreibung) und unter dem Kommunismus verfiel die deutsch-tschechische Zusammenarbeit zur Pflege dieses großen Erbes größtenteils in einem durch den Eisernen Vorhang erzwungenen Dornröschenschlaf. Das änderte sich – obwohl die Tschechen bis heute gelegentlich damit fremdeln – allmählich nach der Samtenen Revolution und dem Ende des Kommunismus 1989.

Dabei half die Politik mit der Finanzierung Förderinstitutionen wie dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, die gemeinsame länderverbindende Projekte unterstützen. Aber am Ende kommt es bei so etwas doch immer auf die Initiative Einzelner an. Zu denen gehörte vor allem die Schriftstellerin Lenka Reinerová. Die galt stets als die letzte große Vertreterin der alten deutschsprachigen Literatur Prags und als eine der letzten, die noch das Idiom des Prager Deutsch sprachen. Die Autorin, die aus einer jüdisch-deutschböhmischen Familie stammte und viele Verwandte im Holocaust verlor, hatte sich eine zeitlang den Kommunisten angeschlossen und hatte sich schon in der Vorkriegszeit als Publizistin einen Namen gemacht.

Die Kriegszeit verbrachte sie im Exil. Nach ihrer Rückkehr eckte sie allerdings bei den Kommunisten, die 1948 die Macht ergriffen hatten, öfters an. In den 1950er Jahren verbrachte sie sogar einige Zeit in Haft, weil man sie des Zionismus und des Trotzkismus verdächtigte. In den 1970er Jahren wurde ihr Berufsverbot erteilt. Viele von ihren Büchern, von denen der Roman Grenze geschlossen (1958) das erste war, waren den tschechoslowakischen Behörden suspekt und wurden nur deshalb in Tschechisch veröffentlicht, weil sie seltsamerweise in der „DDR“ recht problemlos auf den Markt gekommen waren.

Nach dem Ende des Kommunismus 1989 – sie solidarisierte sich mit der Samtenen Revolution – widmete sie sich besonders der deutsch-tschechisch-jüdischen Versöhnung. In Deutschland bekam sie hohe Literaturpreise (etwa 2003 die Goethemedaille in Weimar) verliehen und in Tschechien wurde sie 2001 von Präsident (und Schriftstellerkollege) Václav Havel selbst mit der Verdienstmedaille 1. Kl. ausgezeichnet. Und sie schrieb weiter wichtige Bücher, wie etwa Das Traumcafé einer Pragerin (1996), in dem sie mit autobiographischen Anleihen das Literaturleben Prags in der Vorkriegszeit aufarbeitete, dessen Andenken zu erhalten sie als Lebensaufgabe sah. Und so ist es auch nicht sehr überraschend, dass sie 2004 (vier Jahre vor ihrem Tod mit 92 Jahren) diesem Anliegen noch einmal ihre Kräfte widmete. Gemeinsam mit dem Diplomaten und ehemaligen tschechischen (bis 1993 tschechoslowakischen) Botschafter in Deutschland, František Černý, der heute Vorstandsvorsitzender des Hauses ist, und dem Germanisten und Literaturhistoriker Ernst Kurt Krolop gründete sie das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren.

Den damaligen Auftrag, nicht nur (aber auch) die Tradition der deutsch-prager Literatur zu pflegen, sondern auch neue Literatur neuer Autoren zu präsentieren und zu fördern, füllt das Literaturhaus seither gekonnt mit Leben. Dazu wurde eine Stiftung mit Stiftungsfonds eingerichtet, die das Projekt (mit teilweise öffentlicher und teilweise privater Förderung) finanziert. Wozu auch das Gebäude in der Ječná gehört, bei dem es sich um ein eingeschossiges kleines Haus handelt, das sich auf dem Hinterhof eines von außen recht unscheinbaren (weil für die Umgebung typischen) mehrstöckigen Neorenaissance-Gebäudes befindet. Schon das Äußere stimmt Dank der hübschen und witzigen Wandmalereien mit Karikaturen berühmter Prager Literaten auf den Zweck des Ganzen ein (siehe u.a. großes Bild oben).

Drinnen gibt es im Vortragsraum die größte Bibliothek deutschsprachiger böhmisch-mährischer Literatur mit etlichen Erstausgaben und Sekundärliteratur. Integriert ist seit 2012 auch eine teilvirtuelle Ausstellung, das Literarische Kabinett, bei der man mit Hilfe von Lesematerialien, Digitaldateien und Originalstücken (etwas Kischs Uhr) über Autoren, Werke und Zeithintergründe informieren kann. Portraits – darunter Skulpturen, wie die rechts abgebildete Büste von Rainer Maria Rilke – zieren die Räume des Literaturhauses. Wer einmal an einer Veranstaltung dort teilgenommen hat, kann sich der behaglichen und kultivierten Atmosphäre des Ortes kaum entziehen. Eine gemütliche kleine Café-Bar im Eingangsbereich nimmt dem Ganzen den erhobenen Zeigefinger und macht ihn zu einem echten Literatentreff, vage an alte Literaturcafés erinnernd.

Ja, und dann ist da das wichtigste, nämlich das Programmangebot des Hauses, das seit 2012 von dem kleinen Team um den Leitenden Direktor David Stecher (man sieht ihn im Bild links) gestaltet wird, einem Germanisten und Literaturkenner und ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Prag, der seine Aufgabe im Literaturhaus mit Hingabe und Herzblut erfüllt. Das Programm besteht natürlich zu einen großen Teil der Pflege des Andenkens an eine große Literaturepoche. Aber man „will kein Museum sein“, wie Stecher sagt, sondern man hat auch den Blick nach vorne gerichtet. Immer schon war der Blick auf die deutsch-tschechisch-jüdische Versöhnung gerichtet, weshalb man heute gleichermaßen deutschen und tschechischen Autoren (insbesondere bilingualen, unter denen Jaroslav Rudiš, Stipendiat von 2015, der wohl bekannteste ist) Plattformen bietet, Übersetzungen unbekannterer Autoren besorgt und ein Stipendiatenprogramm für den Nachwuchs in beiden Ländern lanciert hat.

Das Programm im Haus beinhaltet Autorenvorlesungen, Vorträge, Workshops – meist in den kleinen und engen Räumlichkeiten, aber auch in größerem Rahmen andernorts, wie etwa die Reihe Literatur im Park, die definitionsgemäß eine größere Outdoor-Veranstaltung ist. Es gibt Kurse und Schreibwerkstätten mit Autoren und spezielle Programme für Gruppen (jung und alt) und Schulklassen.

Die Stiftung setzt sich auch für die Traditionspflege der deutschsprachigen Literatur im öffentlichen Raum ein, die in Tschechien bisher – gelinde gesagt – nicht sonderlich betrieben wurde. So ging 2011 unter anderem die Gedenkbüste für Rilke (Bild links) in der Na Příkopě 856/15 in der Neustadt (wo er zur Grundschule ging) auf Initiative des Literaturhauses zurück – nicht zu vergessen die Plakette für die Gründerin Lenka Reinerová, die schon 2009 an ihrem Haus in der Plzeňská 949/129 in Prag 5 angebracht wurde. Für so ein kleines Haus mit so kleinem Team hat das Prager Literaturhaus schon viel erreicht. Ja, die die große Ära der Literatur der Deutschprager der Zwischenkriegszeit ist unwiederbringlich durch die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts verloren gegangen. Aber ihr Erbe zu bewahren und das einzigartige deutsch-tschechische Literaturleben in neuen, europäischen Bahnen fortzuentwickeln, ist eine Aufgabe, für die Dank gebührt.


Ahoj aus Prag Titelbild

Ahoj aus Prag! Seit September 2016 leben wir berufsbedingt in Prag. Wir – eigentlich Rheinländer – haben sie schon voll in unser Herz geschlossen, diese Stadt! Deshalb dieser Blog, in dem wir Fotos und Kurzberichte über das posten, was diese Stadt so zu bieten hat und was wir so erleben. Wir, das sind:

Lieselotte Stockhausen-Doering und Detmar Doering

… und unser Hund Lady Edith! Wer sich in Prag einmal umschauen möchte, wird auf diesem Blog nach einiger Zeit sicher Interessantes finden, was nicht jeder zu sehen bekommt, der die Stadt besucht. Viel Spaß beim Lesen!

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