Ganz real und doch romanhaft ist der Aufstieg des Egerländer Maurersohnes Wilhelm Ebert, der in Bayern und der Welt die große Politik mitbestimmen sollte. Am 6. Mai 2023 wäre er 100 Jahre alt geworden.
Wilhelm Ebert hat eine tausendseitige Autobiographie hinterlassen: „Mein Leben für eine pädagogische Schule.“ Wir sehen darin Bilder, die eine märchenhafte Karriere illustrieren: Vom Schüler, der nebst dem jungen Segelflieger am Fliegerhorst Eger Flugmodelle bastelt, zum Bildungspolitiker auf einem Flugfeld in Vietnam 1962, der als Vertreter der „World Confederation of Organizations of the Teaching Profession“ (WCOTP) bei der UNESCO mit dem Hubschrauber unterwegs ist.
Aus einfachen Verhältnissen
Seine Kindheit verbrachte er im von der Gegenreformation geteilten Fleißen im Egerland: „Diesseits eines Baches katholisch, jenseits davon evangelischer Konfession.“ Außer im Religionsunterricht gab es aber keine konfessionelle Trennung – ein Idealbild, das Ebert als sozialdemokratisch geprägter Pädagoge später in Bayern durchsetzen sollte. Mit elf Jahren wurde er Mitglied der Roten Falken, animiert durch den Großvater, der für die Sozialdemokratie im Gemeinderat des industrialisierten Dorfes saß. Die Eberts gehörten zu den Ärmeren, sein Vater war Maurermeister, die Mutter half bei Engpässen mit Fabrikarbeit aus. Wilhelm war der Älteste neben zwei jüngeren Schwestern.
Nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, siedelte er als Heimatvertriebener in Bayern an. Er heiratete die Egerländerin Gisela Fritsche und arbeitete als Volksschullehrer. Ebert war Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) und des Verbandes Bildung und Erziehung, außerdem Direktor des Pariser Büros der WCOTP, später deren Vorsitzender.
Seine Herkunft trug er unverkennbar mit sich: 1973, bei der „US-National Education Association“, hatte Ebert seine Rede „in dem mir bestmöglichen angloamerikanischen Akzent gehalten“, worauf ein Deutschamerikaner befand: „Sie sind doch Egerländer! Unser Dialekt lässt sich in keiner Sprache verbergen.“
Wiedergeburt eines Lehrerverbandes
Wer Wilhelm Ebert erlebt hat, durfte einen Mann von schier überbordender Energie kennenlernen, mit einem robust zupackenden Wesen. Zaudern schien ihm wesensfremd. Ein Macher, konstruktiv denkend und handelnd. Die Intrige konnte er denen überlassen, die ihm seinen Erfolg neideten.
Als erstes musste der Nachkriegs-BLLV aus seiner passiven Rolle erlöst werden, in die ihn sein Kampf um Wiedereinstellung entnazifizierter Lehrer gedrängt hatte. 1955 war Ebert 32 Jahre jung und unbelastet, besaß frischen Schwung und jede Menge Ideen. So konnte er den Verband zurück in die Offensive bringen, getreu seinem Motto: „Was ist anders, weil es uns gibt?“ Wer keinen BLLV wollte, der nur der Selbstbefriedigung von Funktionären diente, wählte Ebert.
Wegbereiter einer unwahrscheinlichen Koalition
Unter SPD-Ministerpräsident Wilhelm Hoegner regierte zwischen 1954 und 1957 eine Viererkoalition ohne CSU, die einzige in der Nachkriegszeit. Dieses Bündnis fand sich, weil die CSU die Lehrerbildung dem Einfluss der Kirche nicht entziehen wollte. Das Projekt konnte nur gelingen, weil eine konstruktive Idee dahinterstand, die all die unterschiedlichen Partner inhaltlich zusammenbinden konnte: die Schulpolitik. Der Ideengeber war Wilhelm Ebert.
DIE ZEIT titelte: „Bayern: Besiegte Sieger“. Die mächtige CSU, aus dem Rennen geworfen von einem bis dato völlig unbekannten Lehrer – diese Konstellation mag Ausgangspunkt eines unerschütterlichen Selbstvertrauens gewesen sein, das Ebert nie wieder verließ. Ein Paukenschlag und Beginn einer Erfolgsgeschichte des BLLV, auf deren Höhepunkt die Frankfurter Rundschau 1976 schrieb, der Volksschullehrerverband sei die „mächtigste und rigoroseste Lobby im Freistaat“.
Ein legendäres Mittagessen
Wenn heute Grundschullehrer an der Universität studieren, haben sie das dem drahtigen Egerländer zu verdanken. Sein Verhandlungsgeschick hat beendet, was steter Stachel des Dorfschullehrers war: die Zurücksetzung hinter dem Gymnasiallehrer. Aufstieg in Rang, Status und Gehalt, eingefädelt 1976 beim Mittagessen „im Mario hinter der Universität“ mit Franz Josef Strauß.
Strauß, der Opposition in Bonn müde und dort ohne Amt, plante seine Heimkehr aus der Bundespolitik. Er nutzte die Gelegenheit, seine Ansprüche aufs Ministerpräsidentenamt anzumelden sowie Kultusminister Hans Maier die Grenzen aufzuzeigen: Strauß formulierte ein Kommuniqué, so Ebert, das „besagte, dass zwischen Strauß und mir zum Problem Lehrerbildungsgesetz Übereinstimmung bestand“. Amtsinhaber Alfons Goppel übergangen, Maier düpiert – die akademische Lehrerbildung kam.
Standespolitik, die aussieht wie Gesellschaftspolitik
„Jesu Bergpredigt und die 10 Gebote des Herrn Ebert“ – so charakterisierte der Münchner Merkur 1980 einen „Mann, der es in atemberaubender Weise versteht, seine Standespolitik als logische Konsequenz des Allgemeinwohls zu verkaufen“. Scharfsinniger kann man das Spannungsfeld nicht abstecken, in dem Verbandspolitik steht – zwischen Lobbyarbeit und Gesellschaftsentwurf. Das Beispiel Lehrerbildung zeigt: Standespolitik muss nicht immer der beste Ratgeber sein.
Denn der Preis für Eberts Triumph war das Ende der Lehrerbildungsanstalt. In späten Tagen sah der Architekt moderner Lehrerbildung die Schattenseiten der Akademisierung: den Verlust von Erdung und breit angelegter praktischer Kompetenzen, abgelöst durch Theoretisierung und Spezialisierung.
Wilhelm Ebert, geistig rege bis ins hohe Alter, stets mit dem verschmitzten Witz, der ihn so sympathisch machte, verbrachte seinen Lebensabend bei München, die Winter auf Teneriffa. 2017 ging sein langer Lebensweg zu Ende.