Man könnte ihn einen tschechischen Wolf Biermann nennen. Der politisch-poetische Chansonier Karel Kryl ist beinahe jedem Tschechen ein Begriff. Doch in Deutschland kennt ihn kaum jemand. Das liegt nicht zuletzt an fehlenden deutschen Versionen seiner Lieder. Unser Landesblogger Robin erzählt die Geschichte des tschechischen Liedermachers – und versucht sich an der Übersetzung einiger seiner Texte.
Der Ruhm des Liedermachers Karel Kryl gründete in einer schicksalhaften Nacht. Nur wenige Stunden, nachdem Truppen des Warschauer Pakts in der Nacht vom 20. bis zum 21. August 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten, schrieb er das Lied „Bratřičku zaviírej vratka“ (dt.„Brüderchen, schließ die Tür“), das zu einer heimlichen Hymne in der nunmehr besetzten Tschechoslowakei wurde.
Das Lied – eine einfache Melodie, begleitet von einer melancholischen Gitarre – trauert und tröstet zugleich. Es täuscht nicht über die Bedeutung der Invasion hinweg: „Diese Nacht wird nicht kurz sein.“ Es ruft auch nicht zum Kampf auf. Angesichts der sowjetischen Übermacht bleibt nur der Rückzug: „Bruder, schluchze nicht, verschwende deine Tränen nicht, schlucke deine Flüche hinunter und spare deine Kräfte.“ Eine Resignation, durch die zugleich die Bereitschaft für einen stillen Kampf durchscheint – durchhalten, bis es besser wird. Das kann man auch als Motto der tschechischen Bürgerrechtsbewegung sehen, die bei Ihrem Widerstand gegen das kommunistische Regime nur selten den gewaltsamen Weg einschlug.
Ein tschechischer Bob Dylan
Kryl selbst ging im Herbst 1969 ins Exil nach München. Der Sohn einer enteigneten Buchdruckerfamilie, geboren am 12. April 1944 im mährischen Kremsier (Kroměříž), hatte keine Zukunft mehr in der Tschechoslowakei. Schon vor seinem Lied über den sowjetischen Einmarsch war er den Kommunisten durch seine kritischen Texte aufgefallen. So wendet sich beispielsweise das Lied „Passagenrevolte“ klar gegen die kommunistische Herrschaft. Seine Lieder waren Protestsongs, noch bevor er selbst das Wort kannte. So erzählt es eine Aussage Kryls, die unter anderem Radio Prague International im Jahr 2005 bekannt machte: „Als ich einmal meine Lieder in Teplice im Schlosskeller vor jungen Zuhörern sang, sagte mir einer von ihnen nach der Vorstellung, das seien Protestsongs. Ich wusste damals noch nicht so genau, was das ist. Er erzählte mir von Bob Dylan, Donovan und Tom Paxton, die Protestlieder singen. Später spielte er mir welche vom Grammophon vor. Erst als ich ihre Übersetzungen durchlas, habe ich verstanden, dass ich eigentlich auch protestiere.“
Ein wütender – und zärtlicher Liedermacher
Diese Einsicht kommt insofern überraschend, als Kryl in seinen Liedern niemals leisetrat. So sang er beispielsweise in seinem Lied „Ted‘ vas tu mame (Bratři)“ (dt.: „Jetzt haben wir euch hier (Brüder)“) den Sowjets ins Gesicht:
„Hier seid ihr, Brüder des Blutes von Kain,
Boten der Nacht, in der man Dolche in den Rücken stößt,
hier seid ihr also, Brüder, Enkel von Stalin,
aber nicht wie gestern, heute ohne den Flieder“
Die Wut in Kryls Texten ist spürbar. Sie vermengt sich mit ihrer Poesie und schafft so die ungeheure Anziehungskraft seiner Lieder. Der Zorn ließ auch in der Emigration und nach der Samtenen Revolution nicht nach. In seiner Zeit in München arbeitete er zunächst als freier Redakteur für das Radio „Free Europe“, wo er ab 1983 fest angestellt war. Hier wendete er sich unablässig mit Liedern, Gedichten, Geschichten und politischen Beiträgen gegen das kommunistische Regime seiner Heimat. Zunächst mitgerissen vom glücklichen Ausgang der Samtenen Revolution äußerte er sich bald sehr kritisch gegenüber der neuen Regierung. Insbesondere empfand er die Trennung von der Slowakei als Fehler und beschwerte sich unter anderem auch über Václav Havels Aufzug bei dessen ersten öffentlichen Auftritt als neuer Präsident der Tschechischen Republik. So soll er seinem jüngeren Bruder Jan, als er den Präsidenten in viel zu kurzen Hosen vors Volk treten sah, gesagt haben: „Wenn an der Spitze des Staates ein Mensch steht, der sich nicht einmal einen Schneider sucht, der ihm sagen würde: ‚Vášek, so kannst Du nicht gehen‘, der wird sich genauso wenig einen Berater nehmen, der ihn in den wichtigeren Dingen berät.“ Für diese und ähnliche Aussagen wurde er in den Jahren ab 1989 von vielen Seiten her kritisiert.
Diese Auseinandersetzungen waren, neben dem permanenten Aufenthalt seiner Frau in der Bundesrepublik der Grund dafür, dass Kryl nach 1989 nicht permanent nach Tschechien übersiedelte, sondern vorerst in München und später in Passau verblieb. Doch Kryl konnte auch anders. Er schrieb zärtliche, liebevolle Texte. Zum Beispiel das Lied vom „blinden Mädchen“ (tsch. „Nevidoma Divka“), in der er den Hörer bittet, das Mädchen mit der Augenbinde in der Sonne spielen zu lassen, die es nie im Leben sehen wird:
„Im Garten hinter der Backsteinmauer,
[…]Sitzt im Herbst auf der Wiese vor dem Fest,
ein kleines Mädchen mit einer Augenbinde.
Sie lässt es sich aus einem Büchlein vorlesen,
und pustet dann einen Kuss auf den Distelflaum
an eine erfundene Adresse.
Bitte lass sie, oh bitte lass sie,
das blinde Mädchen,
Bitte lass sie spielen.
Sie spielt doch in der Sonne mit dem Himmel,
den sie nie sehen wird, obwohl er sie wärmt.“
In Deutschland kaum bekannt
Diese zärtliche Melancholie war neben seiner Wut auf die Ungerechtigkeit das entscheidende Kennzeichen seines Werks. Sie wirkt auch heute, selbst auf Hörer wie mich, die seine Texte nicht vollständig verstehen.
Dass Karel Kryl in Deutschland nicht bekannter ist, liegt nicht daran, dass er nicht auch in deutscher Sprache sang. Er fand vermutlich aufgrund der fehlenden politischen Resonanz seines Werks mit den Deutschen nicht sehr viele Hörer. Die Möglichkeit, ihn für ein deutsches Publikum neu zu entdecken, ist auch durch das beinahe vollständige Fehlen deutschsprachiger Aufzeichnungen seiner Lieder verhindert. Aber vielleicht motiviert ja der schöne Klang seiner Lieder den einen oder anderen, sich ein wenig mehr mit der tschechischen Sprache auseinanderzusetzen oder eine eigene Übertragung des Krylschen Werks ins Deutsche zu versuchen.
Das sollte natürlich in Absprache mit seiner Witwe Marlene Krylova geschehen, die die Rechte an seinen Werken hält. Kryl selbst verstarb am 3. März 1994 an den Folgen eines Schlaganfalls in einem Münchner Krankenhaus. Wenn man heute einen Tschechen auf der Straße anspricht, ob er ein Lied Kryls kenne, so werden die meisten mit „Ja“ antworten. Ich hoffe, mit diesem Artikel dazu beigetragen zu haben, dass dies auch für ein paar mehr Deutsche gilt.
Über unseren Landesblogger:
„Dobrý den. Jmenuji se Robin Sluk. Rád Vás poznávám.“
Zumindest die Vorstellung auf Tschechisch klappt schon einigermaßen. Was den Rest der Sprache anbetrifft, werde ich in den nächsten Monaten noch viel zu lernen haben.
Mit Tschechien verbindet mich die Geschichte meines Vaters, der als Sohn deutscher Eltern in Reichenberg (Liberec) aufwuchs und im August 1968 mit seiner Familie ausgewandert ist. Diese Ausreise war ein recht interessanter Vorgang, über den ich gerne in einem oder zwei Artikeln für das LandesEcho berichten werde. Insbesondere bin ich darauf gespannt, die Prager Kultur- und Literaturszene kennenzulernen und plane einige Artikel über die Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Prag.
Ursprünglich habe ich in Freiburg Philosophie und Mathematik studiert. Mein Ziel beim LandesEcho ist es, einige grundlegende journalistische Kompetenzen aufzubauen. Ganz fremd bin ich der schreibenden Zunft allerdings nicht: Neben der Arbeit bei LandesEcho sitze ich zur Zeit an meinem ersten größeren Projekt, einem literarischen Tagebuch über St. Petersburg, wo ich von August 2018 bis Juni 2019 gelebt habe.
Ich freue mich auf die Zeit in der Redaktion und hoffe, der Leserschaft einige lesenswerte Artikel präsentieren zu können.
P.S.: Sofern ein Prager Leser oder eine Leserin daran interessiert ist, mit mir deutsch zu sprechen und mir dafür im Gegenzug etwas Tschechisch beibringen möchte, kann er oder sie mich unter der Adresse: praktikant@landesecho.cz erreichen.