Gerda im Dezember 2024 in ihrer Wohnung.
Gerda im Dezember 2024 in ihrer Wohnung. Credit: Tim Dantes

Als Kind erlebt Gerda Breitschopf unbeschwerte Tage in Südböhmen – bis Krieg und Vertreibung ihr Leben für immer verändern. Unserem Autor erzählte sie ihre Geschichte.

Es ist kurz vor Weihnachten 2024. Von Ettlingen bei Karlsruhe fahre ich nach Spielberg – zu einer langjährigen Freundin unserer Familie. Ich kenne Gerda, seit ich ein kleiner Junge war. Über die Jahre habe ich erfahren, dass sie – wie auch meine Großmutter – nach dem Zweiten Weltkrieg aus Südböhmen vertrieben wurde. Doch während meine Großmutter damals noch zu jung war, um sich an vieles zu erinnern, hat Gerda noch einige Erinnerungen an diese Zeit, über die ich mehr erfahren möchte.

Ich besuche sie in ihrer Wohnung in Spielberg. Schon an der Tür empfängt sie mich mit einem frisch gebackenen Hefezopf und heißem Kaffee. Ihre gemütlich eingerichtete Wohnung strahlt eine Herzlichkeit aus, die mich sofort ankommen lässt – fast so, als wäre ich zu Hause.

Unbeschwerte Kindheit

Während an diesem nasskalten Tag draußen der Regen gegen die Fensterscheiben prasselt, beginnt Gerda, mir ihre Geschichte zu erzählen und versetzt mich zurück nach Südböhmen im Jahr 1937: Am 11. Februar wurde genannten Jahres wurde Gerda im kleinen Dorf Thurmplandles (Věžovatá Pláně) geboren, gelegen zwischen Böhmisch Krumau (Český Krumlov) und Kaplitz (Kaplice). 

Beim Erzählen hilft Gerda ein Buch, das ihre ältere Schwester vor 20 Jahren geschrieben hat. Wir gehen es an diesem Nachmittag gemeinsam durch. Sie selbst kann sich nicht lückenlos an die Zeit vor der Vertreibung erinnern, schließlich war sie 1945 erst acht Jahre alt. Zu ihrer Schwester hatte Gerda immer eine enge Verbindung. Bis zu ihrem kürzlichen Tod wohnten sie zusammen in der Wohnung in Spielberg.

Gerda erzählt mir von ihrer Kindheit. Nach einem Umzug in den Ort Mülnöd (Milná) – ebenfalls in Südböhmen – gingen Gerda und ihre beiden Geschwister fortan in der Nähe von Friedberg (Frymburk nad Vltavou) zur Schule. Gerda erinnert sich, wie sie auf dem Schulweg Pilze sammelten oder im Fluss badeten, es war eine unbeschwerte Kindheit. 

Ein Krieg, der alles verändert 

1938 änderte sich die Situation der Familie drastisch: der Anschluss des Sudentenlandes an das Deutsche Reich in Folge des Münchner Abkommens hatte weitreichende Folgen für die Familie. Der Vater wurde von der Wehrmacht nach Krems bei Wien eingezogen, Gerda sah ihn zum letzten Mal. Nur ein paar Briefe erhielt die Familie von ihm noch. Als der Krieg ausbrach, musste der Vater zu den Gebirgsjägern. Aus den Aufzeichnungen von Gerdas Schwester geht hervor, dass die Familie stolz auf den Vater war, der nun eine schicke Uniform trug. Von nun an arbeitete Gerdas Mutter in einer Papierfabrik, um die Familie weiter ernähren zu können. Die Kinder verbrachten ihre Zeit oftmals bei der Großmutter. 

Die Zeiten wurden schwieriger. Nach und nach wurden alle Männer für den Krieg eingezogen, der aber noch fern erschien. Das Dorf starb allmählich aus. Eines Tages kam ein Brief mit der Nachricht, dass der Vater in Stalingrad festgenommen worden sei. Gekennzeichnet war der Brief mit drei Kreuzen. Es war ein Zeichen, dass die Eltern vor Ausbruch des Krieges festgelegt hatten. Die Mutter wusste fortan, dass es ihm nicht gut geht. Es war das Letzte, was sie je von ihm hörten. 

Über den Krieg wurde fortan nur noch hinter vorgehaltener Hand gesprochen und die Dorfbewohner begannen, ihr Hab und Gut für den Ernstfall zu verstecken. Soldaten patrouillierten durch den Ort, und die Kinder durften nur noch gemeinsam das Haus verlassen. Die Schule wurde in ein Lazarett umgewandelt, weshalb der Unterricht ausfiel und die Kinder zu Hause blieben. Plötzlich hieß es, die Amerikaner seien im Anmarsch. Die Dorfgemeinde plante, den älteren Männern weiße Fahnen mitzugeben, damit sie den Soldaten entgegengehen und so zeigen konnten, dass niemand schießen müsse.

Kriegsende und Besatzung

Im Frühjahr 1945 rollten deutsche Panzer auf dem Rückzug von den verlorenen Schlachten im Osten durch das kleine Dorf. Die zurückgebliebenen Frauen versuchten, den Soldaten klarzumachen, dass der Krieg verloren sei – und dass sie lieber versuchen sollten, ihr eigenes Leben zu retten. Einige von ihnen folgten dem Rat und versteckten sich im Dorf.

Schließlich trafen die Amerikaner ein, entdeckten einige der deutschen Soldaten und nahmen sie fest. In die Wohnung der Familie zogen fortan amerikanische Soldaten ein, und mit der Zeit kamen immer mehr von ihnen ins Dorf. Geschossen wurde nicht.

Schnell freundeten sich die Dorfbewohner mit den Amerikanern an, denn diese teilten Lebensmittel mit ihnen. Aus anfänglicher Skepsis entwickelte sich ein gutes Verhältnis – beide Seiten profitierten voneinander. „Da war immer einer, der hat mir eine Tafel Schokolade gegeben. Ich habe sie nie genommen, ich bin immer davor weggelaufen – bis meine Schwester sie eines Tages annahm, und wir sie zu Hause gegessen haben“, erinnert sich Gerda und muss schmunzeln.

Die amerikanischen Soldaten wurden bald durch Einheiten der Roten Armee abgelöst – und deren Verhalten gegenüber den Dorfbewohnern war deutlich rauer. Es kam zu Plünderungen, Vergewaltigungen und sogar Morden. Nach und nach kehrten immer mehr Tschechen zurück, und die sowjetischen Soldaten zogen wieder ab. Doch das Leben war nicht mehr wie zuvor. Ein weiteres Jahr verging, bis die Familie im Mai 1946 den Ort infolge der sogenannten Beneš-Dekrete schließlich verlassen musste.

Dieser Teil der Geschichte ist der schwierigste für die heute 88-Jährige, also machen wir eine kurze Pause und schauen uns zusammen alte Bilder ihrer Familie an. In einem Album gibt es einige Fotos, auf einem ist sie mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter zu sehen. 

Familienfoto aus den 1950er Jahren am Ende der Schulzeit der Kinder. Gerda (1.v.l.), ihre Mutter, ihre Schwester und ihrem Bruder.
Familienfoto aus den 1950er Jahren am Ende der Schulzeit der Kinder. Gerda (1.v.l.), ihre Mutter, ihre Schwester und ihrem Bruder. Credit: privat

Vertreibung und Neuanfang 

Gerda berichtet weiter von der Vertreibung. Maximal 40 Kilogramm Gepäck durfte die Familie mit auf ihre Reise ins Ungewisse nehmen, ihr ganzes Hab und Gut mussten sie zurücklassen. Gerda erinnert sich gut daran: „Da hat es geheißen, morgen werden Sie abgeholt. Dann haben sie uns in Viehwaggons gesteckt und es ging los. Alles, was wir noch übrighatten, haben sie uns weggenommen.“ Zuvor mussten sie mehrere Nächte unter menschenunwürdigen Bedingungen in einem Auffanglager ausharren. Dann ging es mit dem Transport aus Pilsen (Plzeň) Richtung Hof in Bayern. „Dort hieß es zum ersten Mal: Ihr seid in Sicherheit“, erinnert sich Gerda. Doch die Reise war noch nicht zu Ende. Über Nürnberg und Stuttgart ging es weiter. Erst nach einer weiteren Nacht in einem Lager erfuhren sie, wo ihre endgültige Destination lag: Spielberg, ein kleines Dorf 16 Kilometer südöstlich von Karlsruhe.

In Spielberg begann für die Familie ein neues Leben. Gerda und ihre Geschwister gingen zur Schule, passten sich den neuen Lebensumständen an und begannen zu arbeiten. Zunächst lebten sie mit anderen Familien unter einem Dach, bis sie schließlich eine eigene Wohnung beziehen konnten. Nach der Schulzeit trat Gerda eine Stelle in einem auf Schlauchtechnik spezialisierten Unternehmen in Ettlingen an. Dort arbeitete sie 38 Jahre lang als Akkordarbeiterin an der Maschine. 

In der Firma lernte Gerda auch meinen Großvater kennen, der ebenfalls dort arbeitete. Später begegnete sie meiner Mutter und Großmutter – aus diesen Begegnungen entstanden Freundschaften, die bis heute bestehen. 

Rückblick auf ein bewegtes Leben

Auch fast 80 Jahre nach den traumatischen Erlebnissen ist Gerda eine lebensfrohe Frau, die gerne mit dem Hund ihrer Nachbarin durch den Wald spaziert. Ihre Freundlichkeit und Herzlichkeit machen sie zu einer inspirierenden Persönlichkeit. Sie hat immer ein Lächeln im Gesicht, ist offen und herzlich– und es gibt garantiert guten Kuchen und frischen Kaffee, wenn man sie besucht.

Heute appelliert Gerda eindringlich an den Frieden – damit sich das Geschehene nie wiederholt. In ihrer Familie, bei ihren Geschwistern und deren Kindern, bleibt das Thema Vertreibung bis heute präsent. In den 1990er-Jahren reiste Gerda erstmals zurück in ihren Geburtsort – den sie aber kaum wiedererkannt habe.

Spielberg ist für sie zur zweiten Heimat geworden. Hier ist sie alt geworden, lebt seit vielen Jahren in einer kleinen Wohnung, lange Zeit gemeinsam mit ihrer Schwester. Ihre Nichten besuchen sie regelmäßig. Auch mein Besuch hat mich mit Freude erfüllt.

Zum Abschied gibt sie mir mit auf den Weg: „Der Böhmerwald bleibt meine Heimat.“ Nach unserem Gespräch sitzen wir noch ein wenig zusammen und unterhalten uns über das Leben im heutigen Tschechien. Am Nachmittag trete ich meine Heimreise an – bewegt und dankbar für diese Begegnung.

Dieser beitrag erschien zuerst in der landesecho-ausgabe 7/2025

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