Tschechiens höchstes Gericht kippte eine Klausel, nach der kleine Parteien bei Wahlen benachteiligt werden. Doch das bringt die nahenden Wahlen in Gefahr.
Tschechien steht Kopf: Mitten in die schlimmste Pandemie-Zeit, die das Nachbarland voll beansprucht, platzt das Verfassungsgericht in Brünn mit einem Urteil, das einem Erdbeben gleichkommt, weil es die politische Landschaft völlig durcheinanderbringen dürfte. „Als würde Covid nicht reichen“, stöhnt die Zeitung Mladá fronta Dnes.
Reichlich drei Jahre haben die Kläger, Abgeordnete mehrerer kleiner Parteien, auf den Richterspruch warten müssen. 2017 hatten sie das Wahlgesetz moniert, weil es die großen Parteien bei den Wahlen begünstige. Das Urteil ist für die Kläger ein Sieg auf ganzer Linie. Aber es kommt zur Unzeit. Nicht nur wegen Corona. Vor allem wegen der schon im Herbst anstehenden Abgeordnetenhauswahlen. Die dürfen schon nicht mehr nach den alten Regeln ablaufen. Gibt es bis zum Wahltermin kein neues Gesetz, muss der Urnengang womöglich verschoben werden.
Kleine Parteien im Nachteil
Das Gericht folgte dem Vorwurf der Kläger, wonach große Parteien aufgrund einer Kombination aus unterschiedlich großen Wahlkreisen und dem Auszählungsverfahren im Vorteil sind. Bei den Wahlen 2017 etwa benötigte die kleine Bürgermeisterpartei STAN doppelt so viele Stimmen wie die dominierende Bewegung ANO von Premier Andrej Babiš für ein Mandat im Abgeordnetenhaus. Würde der Grundsatz Mandate wie Stimmenzahl gelten, hätte ANO heute 13 Abgeordnete weniger – und alle kleinen Parteien dafür ein paar mehr. Das liegt daran, dass die „Väter“ des aktuellen Wahlrechts das Verhältniswahlrecht mit Teilen des Mehrheitswahlrechts vermischt hatten.
Die „Väter“ – das waren die in der noch jungen Geschichte Tschechiens neben Václav Havel mächtigsten Politiker der 1990er Jahre: die Chefs der konservativen Bürgerpartei ODS und der Sozialdemokraten ČSSD, Václav Klaus und Miloš Zeman. Deren Problem waren kleine, widerspenstige Koalitionspartner, die das „Durchregieren ohne Widerspruch“ unmöglich machten.
Politik in Hinterzimmern
Als die Sozialdemokraten 1998 vorgezogene Wahlen gewannen, kam Zeman die Idee einer Minderheitsregierung, die von der zweiten großen Partei, der ODS, toleriert wird. Klaus stimmte zu und wurde zum Lohn Parlamentspräsident. Festgeschrieben in einem Dokument, das „Vertrag über die Bildung eines stabilen politischen Umfelds“ hieß.
Die ODS ließ die Sozialdemokraten fortan regieren. Das „Wie“ wurde von beiden Parteien in Hinterzimmern ausgehandelt. Zeman und Klaus fanden so viel Gefallen an dieser Konstellation, dass sie die in ein neues Wahlgesetz gossen, das sie als Große im Vorteil sah. Künftig wollten sie sich je nach Wahlergebnis die Macht teilen, gegenseitig tolerieren. Kritiker nannten den de facto Wählerbetrug bewusst russisch „Demokratura“, weil er die in der Demokratie vorgesehene Rolle von Regierung und Opposition aushöhlte. Dass das mit dem „stabilen politischen Umfeld“ nicht ewig klappte, hing allein an den sinkenden Wählerzahlen für ODS und ČSSD.
Premier Babiš, der derzeit von dem alten Wahlgesetz profitiert, poltert heftig gegen den Richterspruch, der „politisch gegen seine Bewegung ANO motiviert“ sei. Dabei war er erst selbst aus Protest gegen diese alten Machenschaften in die Politik gegangen.