Heute übernimmt Deutschland mit Angela Merkel an der Spitze für sechs Monate die Präsidentschaft in der Europäischen Union. Wegen der Herausforderungen, vor denen Europa gerade jetzt steht, ist das für unseren Kommentator eine glückliche Fügung und große Chance für Europa.
Manche Menschen wachsen an ihren Aufgaben. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hätte sich wohl nicht vorstellen können, in welcher komplizierten Situation der Europäischen Union sie die Ratspräsidentschaft übernimmt. Aber um so größer sind die Hoffnungen in sie.
Die Coronavirus-Pandemie hat Europa in die schlimmste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg geworfen. Unvorbereitet, wie sie war, reagierte sie mit den härtesten und teuersten Maßnahmen, der Schließung der nationalen Grenzen und der Außengrenzen sowie einer mehrmonatigen Abschaltung der Wirtschaft.
In dem Halbjahr, in dem Deutschland die Europäische Union führen wird, will zugleich Großbritannien mit dem unberechenbaren Boris Johnson an der Spitze seinen Austritt aus der Europäischen Union vollenden. In den USA will der noch weniger berechenbare Donald Trump wiedergewählt werden, wofür er alles in der Lage zu tun ist.
Als wäre das nicht genug soll sich das um das reiche Großbritannien dezimierte Europa auf einen gemeinsamen Haushalt für die nächsten sieben Jahre einigen. Und das in einer Situation, in der in Mitteleuropa antidemokratische und in der Folge antieuropäische Tendenzen an Kraft gewinnen, denen die durch das Coronavirus hervorgerufenen Maßnahmen und Stimmungen den Nährboden bereitet haben. Der ungarische autoritäre Premierminister Viktor Orbán ist zu ihrem Symbol geworden.
13 Jahre später
Zu meinen wertvollsten Fotos gehört jenes, auf dem ich im Kanzleramtsgebäude direkt neben Angela Merkel stehe. Es stammt aus dem Jahr 2007, als Deutschland zum bislang letzten Mal Europa anführte. Damals mussten komplizierte Probleme wie die blockierte europäische Verfassung gelöst und das Umweltpaket, das den CO2-Ausstoß verringern sollte, durchgesetzt werden. Damals schlug Deutschland auch das visionäre Projekt einer euroatlantischen Handelsunion vor, die seit Trump zwar auf Eis liegt, aber immer noch nötig ist. Genauso aktuell sind noch Angela Merkels damalige Worte: „Wir sollten Wege finden, die transatlantische Zusammenarbeit zu stärken. Um uns der wachsenden Konkurrenz aus Asien zu erwehren, müssen wir unsere Kräfte vereinen, zum Beispiel bei der Durchsetzung des Schutzes geistigen Eigentums.“
Deutschland hat in seiner Amtszeit vor 13 Jahren viel durchsetzen können. Das wichtigste Vorhaben, die neue europäische Verfassung in Form des Lissabon-Vertrags, konnte erst später angenommen werden, nachdem Polen und vor allem Tschechien ihren Widerstand aufgaben. Der damalige Präsident Václav Klaus unterzeichnete sie als letzter am 3. November 2009, nachdem er im Gegenzug einen sinnlosen Zusatz über die Beneš-Dekrete herausholen konnte. Aber den Weg zum Vertrag ebnete gerade jener Vorsitz Deutschlands.
Deutschland geht voran
Nach 13 Jahren ist Klaus eine tragikomische Gestalt des extremen Randes der europäischen Politik, während sich Angela Merkel auf ihrem politischen Gipfel befindet und zu Recht die Augen ganz Europas auf sie gerichtet sind. Und wegen einer sehr problematischen Politik Donald Trumps eigentlich sogar die Augen der ganzen freien Welt.
Der Vorteil der heutigen „Coronavirus“-Krise des Westens und der Europäischen Union gegenüber der Schuldenkrise vor elf Jahren ist, dass sie Deutschland und das mit ihm wirtschaftlich verbundene Mitteleuropa in einer ausgezeichneten Kondition getroffen hat. Auch wenn viele Staaten aus den vergangenen guten Jahren nicht so viel herausholen konnten wie Deutschland, hat der „Norden“ Europas die Kraft, dem „Süden“ der Europäischen Union zu helfen, die Krise zu überwinden.
Dass es gerade Angela Merkel war, die mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron gemeinsame EU-Anleihen in Höhe von 500 Milliarden Euro vorschlug, war ein wichtiger symbolischer Schritt, der das Denken über Europa völlig verändert hat. Ähnlich wirkt die Zusage Deutschlands, seinen Anteil am EU-Haushalt deutlich zu erhöhen. Hier gilt, wie auch sonst im Leben, dass Sie mit gutem Beispiel vorangehen müssen, wenn Sie andere überzeugen wollen. Der Kanzlerin ist gerade das gelungen.
Ähnlich gelingt es Deutschland, frei von Hysterie und effektiv die Coronavirus-Pandemie zu bekämpfen und dank eines leistungsfähigen Gesundheitswesens und gut arbeitender staatlicher Organe auch hier der EU ein Vorbild zu sein. Dazu gehören auch die wichtigsten Schritte, um die Pandemie zu beenden und Europa und die Welt wieder in die Normalität vor Corona zurückzubringen: die Suche nach einem Impfstoff und eine erfolgreiche Behandlung von Viruserkrankungen.
Das grüne Europa als Chance
Gleichzeitig ist wichtig, dass Deutschland während seiner Präsidentschaft auch das langfristige Ziel der Union und der Bundesrepublik nicht aus den Augen verliert, nämlich weltweiter Anführer im Kampf gegen die globale Erwärmung zu sein. Die Europäische Union zu überzeugen, dass die „grüne Revolution“ keine Bedrohung für die europäische Wirtschaft ist, sondern eine Chance zur Modernisierung, wird nach dem Meistern der wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise schwieriger, ist aber nicht unmöglich. Schon allein deshalb, weil der große Teil der Europäer und europäischen Politiker die Übernahme der Präsidentschaft durch Deutschland und Angela Merkel nicht als Bedrohung, sondern große Hoffnung für ganz Europa ansieht. Und das zu Recht, denn Merkel ist zweifelsohne eine große Europäerin. Deshalb kann man nur hoffen, dass das kommende halbe Jahr in die Geschichte Europas als großer positiver Umbruch eingeht. Als Beginn einer neuen Ära der Europäischen Union. Eine größere Chance wird die Europäische Union nämlich lange nicht erhalten.
Der Autor ist Redakteur der Tageszeitung Deník.