Der Totenschädel und die Kirschblüten – vereint von der künstlichen Intelligenz Dall-E. Credit: OpenAI

Unser Landesblogger Robin hätte einen Text über den ersten Mai schreiben können, der in Tschechien als Tag der Liebe gefeiert wird. Er hat sich jedoch wieder einmal hinreißen lassen und inspiriert von Karel Hynek Máchas „Mai“ einen Versuch über Küsse, die Liebe und den Tod geschrieben.

Ein Kuss besteht üblicherweise in der Vereinigung zweier Lippenpaare. Er kann aber auch einseitig sein: Ein Lippenpaar berührt ein Körperteil oder einen Gegenstand. Die Intention dahinter ist für gewöhnlich der Ausdruck von Zuneigung und Zusammengehörigkeit. Küsse sind kulturell universell. Das heißt sie sind in voneinander unabhängigen Kulturen entstanden. Sie stellen ein rätselhaftes Phänomen dar, da nicht unmittelbar ersichtlich ist, welchem Zweck sie dienen.

Eine spezifisch tschechische Kusstradition ist mit dem ersten Mai verbunden. Liebespaare verabreden sich an diesem Tag zum Kuss unter dem Kirschbaum. In Prag tun sie das gewöhnlich auf dem Laurenziberg (Petřín) bei der Statue des tschechischen Poeten Karel Hynek Mácha. Dessen Gedicht „Maj“ ist eines der wichtigsten Werke der tschechischen Literatur. Es hat die spezifisch tschechische Tradition begründet, den ersten Mai als einen Tag der Liebe zu feiern. Man kann und darf sich jedoch fragen, warum gerade dieses Gedicht eine Bewegung liebes- und lebensbejahenden Küssens etablierte. Schließlich handelt das Gedicht hauptsächlich von der Hinrichtung eines Räuberhauptmanns und seinen Gedanken im Angesicht des Todes. Was aber hat der Tod mit der Liebe zu tun?

Die Statue von Karel Hynek Mácha auf dem Petřín in Prag. Credit: Daniel Hulme CC BY 2.5.

Vereinigung und Trennung

Um diese Frage zu beantworten, kehren wir noch einmal zum Kuss und zur Frage nach seiner Bedeutung zurück. Unvoreingenommen betrachtet handelt es sich beim Kuss um eine seltsame Tat. Warum sollte der Kontakt der Lippen mehr bedeuten als etwa eine Umarmung oder eine andere Berührung? Der Palaöanthropologe Rudolf Bilz hat einmal die These vorgebracht, dass sich das Küssen von anderen Säugetierarten auf den Menschen übertragen habe. Dort habe es ursprünglich eine Funktion bei der Mutter-Kind-Bindung gehabt: Die Mutter kaut das Essen für das Junge vor und übertragt die vorbereitete Nahrung über den offenen Mund. Ein anderes Beispiel sind Tauben, die einander vor dem Paarungsakt die Köpfe in den Hals stecken, um sich gegenseitig an den Inhalten ihrer Kröpfe zu nähren. Diese Vorgänge werden unter dem Begriff des „Atzens“ zusammengefasst. Die Funktion der Ernährung und Fürsorge steht hier noch im Vordergrund, doch hat dieser Akt bereits in der Tierwelt einen Symbolgehalt, der mit der Paarbindung verknüpft ist. Nach Rudolf Bilz ist es denkbar, dass der Kontakt von Mündern von da auch seinen spezifischen emotionalen Gehalt für den Menschen genommen hat. Der Kuss wäre eine Art evolutionäres Symbol, das Ernährung und Sorge als Versprechen beinhaltet.

Doch das ist Spekulation. Nicht verneinen können wir, dass es einen bestimmten Impuls gibt, jemanden zu küssen. Man könnte es als ein Gefühl bezeichnen, das nach einer bestimmten Realität, nach einem Ausbruch, verlangt. Eine unaufhaltsame Berührung. Zugleich spüren wir, wenn wir geküsst werden, sehr intensiv, dass wir gerade berührt werden, an einer Stelle, die sehr zart und verwundbar ist. Die Lippen kennzeichnen eine Schwelle zu unserem Inneren, die für einen Moment von einem anderen Menschen überschritten wird. Die Trennung vom Anderen ist für einen Moment aufgehoben. Es ist vielleicht diese Gier nach Vereinigung, die sich im Bedürfnis nach dem Kuss ausdrückt. Bei (fast) jeder anderen Berührung bildet unsere Haut noch einen Panzer, oder wie Büchners Danton es sagt, eine Elefantenhaut, die wir aneinander reiben. Der Kuss überwindet also – zumindest symbolisch und in einem gewissen Sinne auch körperlich – die Grenze zum Anderen. Er ist der erste Schritt in ein „anderes Land“.

Blühen und Sterben

Wie alle Stellungen von Körpern zueinander ist ein Kuss nicht ewig aufrechtzuerhalten. Auf die Vereinigung folgt zwangsläufig die Trennung. Eine gewöhnliche Reaktion auf diese Tatsache ist die Melancholie: Alles Gute vergeht. Der oder die Getäuschte fragt sich: Warum nach der Liebe streben, wenn sie vergeblich ist? Betrachtet man die Situation jedoch nüchterner, so müsste man feststellen, dass eine ewige, bzw. eine nicht bedrohte Vereinigung keinen Wert besäße. Man müsste sie nicht beachten und könnte sie nicht einmal unterscheiden, sie wäre wie das Wasser für die Fische und die Luft, die wir atmen, eine Selbstverständlichkeit, die niemandem auffiele. Das eben ist die Liebe nicht. Sie ist Nähe, die die Trennung durchbricht und doch ständig von ihr bedroht ist.

Deswegen ist der Kirschbaum und allgemeiner die Blüte ein Symbol für die Liebe, das in zahlreichen, ursprünglich voneinander unabhängigen Kulturen aufgetreten ist. Die Kirschblüten brechen zart aus der verschorften Rinde des Baumes aus, sie sind der Moment seiner maximalen Verletzlichkeit und zugleich seiner größten Schönheit. Diese schönste Phase des Baumes ist unhaltbar. Sie vergeht und macht anderen Formen Platz, bis dieser schließlich seinen einstweiligen Tod im beginnenden Winter stirbt. Eine ewige Blüte wäre – genauso wie eine ewige Liebe – schon gar keine Blüte mehr.

Blühende Kirschbäume in Gablonz. Credit: Robin Sluk

Die Liebe und der Tod bei Mácha

Von hier kommen wir zurück zu Máchas Gedicht. Dessen zentrales Stück ist wie gesagt die Hinrichtung des Räuberhauptmanns, der unwissentlich seinen Vater tötete, weil dieser seine Geliebte vergewaltigte. Im Kerker setzt sich der Verurteilte mit seiner Endlichkeit auseinander. Im Angesicht des Todes ist alle Liebe vergeblich. Die wenige Wirklichkeit, die ihr gegeben war, hat das Verbrechen des Vaters zunichte gemacht. Jetzt bleibt nur das Warten auf das Ende. Das Nichts und die vollständige Bedeutungslosigkeit seines Lebens überwältigten den Schlaflosen. In diesen letzten Momenten sehnt er sich noch einmal nach der Schönheit der Natur, nach seinen Jugendjahren, nach der Geliebten. Er hat nichts mehr davon.

So wie ihre ursprüngliche Abwesenheit erst das Erblühen der Liebe möglich macht, so zeigt sich unser Lebenswunsch erst wirklich im Angesicht des Todes. Erst der Verlust zeigt das, was wir verloren haben, ganz. Wenn man Liebe ausdrückt, muss man auch die Möglichkeit ihres Endes aussprechen.

Das entscheidende Bild des Gedichts ist deshalb der Schädel des enthaupteten Räubers. Er ist auf einem Pfahl aufgespießt und blickt in eine bezaubernde Landschaft. Unter ihm hängen seine abgetrennten Gliedmaßen in den Speichen eines Rades. Sogar der Blick, der diese Landschaft sah, ist gestorben. Der Mensch, der ihre Schönheit fühlen konnte, ist nicht mehr. Von hier aus betrachtet ist die Vergeblichkeit der Liebe innerhalb des Lebens verschwindend gering gegenüber der Vergeblichkeit des Lebens selbst. Was gestorben ist, kann nicht noch einmal erblühen. Es ist für immer vergangen, selbst das Versprechen neuer Liebe – oder eines neuen Frühlings – ist für es erloschen:

Es schweift der tote Blick hinüber nach den Auen,
Den Au’n des Kindheitsglücks. – O schöne, schöne Zeit,
Wie trug der wilde Flug des Schicksals sie so weit,
Wie ist ihr Traum so fern – ein Totenschatten bloß!
Das Bild der Stadt, getaucht in der Gewässer Schoß,
Des armen Sterbenden spätletzter Trostgedank’,
Sein ausgestorb’ner Nam’, uralter Schlachten Tosen,
Ein alter Nordlichtschein, verblasste Maienrosen,
Zerschlag’ner Harfen Ton, zerriss’ner Saiten Sang,
Verblühter Zeiten Mähr’, erstorb’ner Sterne Schein,
Verborg’ner Irrlichttanz, des toten Liebchens Pein,
Erlosch’ner Flammen Rauch, zerschmolz’ner Glocken Klang,
Ein längstverscholl’nes Grab, versunk’ne Ewigkeit –
Das ist der Totenwelt bildschöne Kinderzeit!“

Auszug aus Máchas Gedicht Mai in der Übertragung von Alfred Waldau auf www.vatermoerder.de

Ewige Vergänglichkeit

Das sind Gedanken, die man an einem sonnigen ersten Mai, mit dem oder der Liebsten im Arm und beschützt von der prächtigen Krone einer jungen Kirsche nicht in sich tragen möchte. Wir wollen, dass die Liebe und das Leben ewig währen, wir wollen dieses eine Jetzt für immer. Doch die Liebe kommt und geht wie die Jahreszeiten und eines Tages geht sie zum letzten Mal. Zuletzt bleibt nur ihre Spur in unserem Gedächtnis.

Genauso bleiben in dem Moment, in dem das letzte Lebenslicht auf diesem Planeten verlöscht, nur unsere bedeutungslosen Spuren übrig. Niemand wird sie lesen, niemand wird sie schätzen, niemand wird sich über diese vergangene Zivilisation verwundern können. Aber wir, wir haben diese Spuren in den Sand der Zeit gezeichnet.

Deswegen ist das Letzte, woran die Liebe sich bewähren muss, der Tod. Und deshalb ist Máchas „Mai“ ein Liebesgedicht. Mit ihm feiern wir den Moment im Frühling, wo die Freiheit und das Leben noch einmal möglich werden. Zugleich gedenken wir seiner Endlichkeit, der absoluten Notwendigkeit, das alles einmal vergeht.

Eines Tages wird der letzte Prager Frühling zu Ende gehen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir diesen hier leben.


Robin Sluk

Über unseren Landesblogger:

„Dobrý den. Jmenuji se Robin Sluk. Rád Vás poznávám.“

Zumindest die Vorstellung auf Tschechisch klappt schon einigermaßen. Was den Rest der Sprache anbetrifft, werde ich in den nächsten Monaten noch viel zu lernen haben.

Mit Tschechien verbindet mich die Geschichte meines Vaters, der als Sohn deutscher Eltern in Reichenberg (Liberec) aufwuchs und im August 1968 mit seiner Familie ausgewandert ist. Diese Ausreise war ein recht interessanter Vorgang, über den ich gerne in einem oder zwei Artikeln für das LandesEcho berichten werde. Insbesondere bin ich darauf gespannt, die Prager Kultur- und Literaturszene kennenzulernen und plane einige Artikel über die Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Prag.

Ursprünglich habe ich in Freiburg Philosophie und Mathematik studiert. Mein Ziel beim LandesEcho ist es, einige grundlegende journalistische Kompetenzen aufzubauen. Ganz fremd bin ich der schreibenden Zunft allerdings nicht: Neben der Arbeit bei LandesEcho sitze ich zur Zeit an meinem ersten größeren Projekt, einem literarischen Tagebuch über St. Petersburg, wo ich von August 2018 bis Juni 2019 gelebt habe.

Ich freue mich auf die Zeit in der Redaktion und hoffe, der Leserschaft einige lesenswerte Artikel präsentieren zu können. 

P.S.: Sofern ein Prager Leser oder eine Leserin daran interessiert ist, mit mir deutsch zu sprechen und mir dafür im Gegenzug etwas Tschechisch beibringen möchte, kann er oder sie mich unter der Adresse: praktikant@landesecho.cz erreichen.

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