Seit seinem ersten Besuch zieht der Neue Jüdische Friedhof in Žižkov unseren LandesBlogger Jonas magisch an. In diesem Artikel geht er der Faszination des Ortes auf den Grund.
Ein schlicht gehaltenes Schild am Eingang weist mir den Weg: 250 Meter nach rechts, dort ist es, das Grab des Schriftstellers, der wie kein anderer Prag als den Kulminationspunkt aus deutscher, jüdischer und tschechischer Intelligenz verkörpert – Franz Kafka. Ich befinde mich auf dem Neuen Jüdischen Friedhof im Prager Stadtteil Žižkov. Mal wieder. Denn seit meinem ersten Besuch im Jahr 2019 habe ich diesen Ort immer wieder aufgesucht – besser gesagt, der Zauber des Ortes hat mich angezogen. Es ist eine Stätte zum Innehalten und Verweilen, zum Entkoppeln von den rauen Tönen, die untrennbar mit dem Leben in der Großstadt verflochten sind.
Auf dem Weg zu Kafkas Grab. Foto: Jonas Klimm
„Ein Traum“
Auf meinem Weg zu Kafkas Grab entlang der Friedhofsmauer habe ich eine seiner vielen nebulösen, teils kryptischen Erzählungen im Kopf, die ich erst kürzlich gelesen hatte. Der Titel: „Ein Traum“. Der Inhalt des schmalen Stücks lässt sich wie folgt zusammenfassen: Josef K. hat einen Traum. Es verleitet ihn auf einen Friedhof, magnetisch von einem Grabhügel angezogen. Dort stößt er auf zwei Männer, die sich um einen Grabstein positioniert haben. Ein dritter Mann, ganz offenkundig ein Künstler, zuständig für die Grabgestaltung, stößt ebenfalls dazu. Er schreibt mit einem Bleistift „Hier ruht“ in den Grabstein und stockt, als er Josef K. gewahr wird. Nur ein „J“ bringt er noch in den Stein. Anschließend tritt er voller Wut auf den Boden. Josef K. versteht und gleitet in die ausgehobene Grube hinab. Der Künstler kann sein Werk fortsetzen.
Es ist wie so oft mit dem hageren, groß gewachsenen und von kantiger Physiognomie geprägten Kafka, der über viele Jahre tagsüber für die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag tätig war, und nachts in seiner Stube unermüdlich schrieb, um die eigenen Dämonen zu bannen: Auch bei „Ein Traum“ verharrt er im Vagen und lässt den Leser hoffnungslos im Interpretationsregen stehen. „Kafkaesk“ hat sich dafür in den Sprachgebrauch eingebürgert, ein häufig (und meist falsch) verwandtes Wort. Der Duden definiert „kafkaesk“ mit „auf unergründliche Weise bedrohlich“. Auf die Handlung von „Ein Traum“ trifft das nicht zu: Der Ort des Geschehens, ein Friedhof, lässt zwar Bedrohliches erahnen. Doch die Umschreibungen sind durchaus positiv. Man möchte sich beinahe mit Josef K. in die Grabesgrube legen, so angenehm beschreibt Kafka den gesamten Vorgang. Als Josef K. schließlich „von der undurchdringlichen Tiefe aufgenommen wurde“, lässt Kafka seine Erzählung abrupt enden mit dem Satz: „Entzückt von diesem Anblick erwachte er“.
Nun stehe ich also vor dem kubistisch angelegten, sechsseitig-kristallförmigen Grabstein des Mannes, der für mich immer anziehend und abstoßend zugleich gewesen ist. Ein unergründliches Faszinosum – bis in die Gegenwart.
Der sechsseitig-kristallförmige Grabstein der Familie Kafka. Foto: Jonas Klimm
Friedhof mit 130-jähriger Geschichte
Seit nun über 130 Jahren besteht der Neue Jüdische Friedhof in Žižkov. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde in der seinerzeit von Prag unabhängigen Gemeinde in der Ortslage Wolschan (Olšany) die heutige kommunale Totenstadt Wolschaner Friedhof errichtet. Die jüdische Gemeinde nutzte damals die sich bietende Gelegenheit und erwarb eine unmittelbar angrenzende, rund zehn Hektar große Fläche, um diese zukünftig ebenfalls als Friedhof zu nutzen. In den Jahrhunderten zuvor ließen die Prager Juden ihre Angehörigen auf dem Alten Jüdischen Friedhof im zentral gelegenen Stadtteil Josefsstadt (Josefov) beerdigen, bis der Habsburger Kaiser Joseph II. 1787 Bestattungen in der Innenstadt untersagte. Anschließend wichen sie für rund 100 Jahre auf einen anderen Jüdischen Friedhof aus, ebenfalls in Žižkov gelegen, direkt am heutigen Fernsehturm. Doch dieser bot auf Dauer nicht genügend Platz, sodass ein anderes Grundstück unentbehrlich wurde. Heute befinden sich auf dem Neuen Jüdischen Friedhof rund 25.000 Grabstätten, Platz wäre sogar für rund viermal so viele Gräber.
Ahorn-, Lindenbäume und Efeu
Ich möchte mehr sehen und lasse mich tiefer in den von Ahorn- und Lindenbäumen gesäumten Friedhof einsaugen. Schiefe, längst verwitterte Grabsteine stehen neben gut gepflegten Gräbern und monumentalen Todeshallen. Der wuchernde Efeu lässt vieles unter sich verschwinden: Grabsteine, Familiengeschichten, Tragödien – Jahrhunderte jüdischen Lebens in Prag. Trotzdem habe ich nicht das Gefühl der Verwahrlosung, vielmehr holt sich die Natur das zurück, was ihr gehört. Sie führt das Leben weiter, obwohl Tod und Vergänglichkeit allgegenwärtig sind. Und der Efeu führt zu absoluter Gleichheit. Ihn interessiert nicht, ob unter ihm der Großindustrielle, die Advokatengattin oder das viel zu früh verstorbene Kind begraben liegt. Alle sind gleich, vereint im Jenseits, ruhend auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Žižkov.
Wuchernder Efeu bringt die Grabsteine zum Verschwinden. Foto: Jonas Klimm
Wenn ich vor einzelnen Gräbern stehe, versuche ich mir immer die Menschen vorzustellen. Vor meinem inneren Auge entwerfe ich mir ihre Biographie, deute ihre Lebensspanne, stelle mir vor, was sie beschäftigt hat, was ihre Bedürfnisse waren, ob sie ein gutes Leben geführt haben. Dann denke ich mir, dass sie glücklich wären, wüssten sie, dass 120 Jahre nach ihrem Tod ein junger Mann vor ihrem Grab steht und an sie denkt, während auf dem Erdenrund schon längst keine Angehörigen und Freunde mehr existieren, die in Gedanken bei dem Verstorbenen sein können. Nach zwei Stunden und Dutzenden Gräbern, die ich mir angesehen habe, verlasse ich den Friedhof wieder – erholt und mit einem guten Gefühl. Ich überquere die Straße und steige in die U-Bahn. Die Großstadt hat mich wieder.