Manche Plätze in Prag erscheinen unheimlich, so als würden sie ein Tor in eine andere Zeit verbergen. Credit: DALL-E von Open AI

Wie entsteht eigentlich die Atmosphäre einer Stadt? Bei seinem zweiten Stadtspaziergang hascht Landesblogger Robin dem Geist – oder den Geistern – der tschechischen Hauptstadt nach.

„Ich sah die Menschen und Dinge, zwischen denen ich gelebt hatte und sie waren über alle Maßen groß – gespenstisch, riesenhaft und furchterregend erschienen sie mir wie Menschen und Dinge aus einer anderen Welt… Ich bin das ganze Leben lang vom Prag meiner Kindheit nicht losgekommen. Ich ging immer dem Phantom des Prager Getto nach und habe es überall gesucht.“

„Menschen und Dinge aus einer anderen Welt.“ Damit trifft der in Prag geborene Schriftsteller Leo Perutz es ganz gut, finde ich. Auch heute noch, wo man den Prager Stadtkern auf Hochglanz poliert hat und im Erdgeschoss jedes zweiten historischen Gebäudes ein Starbucks sitzt, geht es mir so.

Manchmal, wenn ich nachts durch die Straßen der Prager Altstadt gehe, ist es, als kröche das Nichts von hinten an die prächtigen Stuckfassaden heran. Als bildeten die hohen fünfstöckigen Stadthäuser nur die Front für das wahre Prag, ahne ich hinter jedem Hauseingang ein dunkles Geheimnis. Die hohen Fenster, die Türme, die Erker, der Stuck, das alles ist wie ausgestellt im Straßenlaternenlicht. Alles scheint unwirklich und fremd.

Obwohl es sich um ganz gewöhnliche mitteleuropäische Straßenzüge und Plätze handelt, kann ich mich diesem Gefühl nicht erwehren: Es ist, als käme das alles von einem anderen Planeten, brächte Nachricht aus einer fremden Welt. Doch was meine ich damit? Ist es die Welt von Kafka, Meyrink, Perutz und all der anderen Prager Düsterliteraten, die da zu mir spricht? Warum kommt es mir so vor, als hätte hier alles einen geheimen Hintersinn?

Orte ohne Raum und Zeit

Um diesem Gefühl auf die Spur zu kommen, hilft es vielleicht, wenn ich eine Beobachtung schildere, die ich vor einigen Tagen machte. Ich befand mich auf einem kleinen Platz unweit des Masaryk-Bahnhofs. Mitten auf diesem Platz stand eine Uhr an einem großen langen Pfahl. Das Kopfsteinpflaster umringte die Uhr wie ein spiegelglattes Meer, dass sich in die Kanäle der Altstadt verzweigte. Es war, als schauten die Häuser um den Platz wie mächtige, aber wohlmeinende Riesen auf den Pfahl in ihrer Mitte herab, dessen unerbittliche Uhrzeiger die einzigen Zeichen waren, die die Zeit jemals an diesem Ort hinterlassen würde. Ich stand und schaute die Zeit an und wieder hatte ich diese Ahnung, dass die Welt hinter diesen Fassaden aufhören müsste, dass ich versehentlich in ein Zwischenreich geraten war, in dem nichts existierte, als diese Häuser, dieser Platz und diese Uhr.

Die Uhr, die meine Überlungen inspiriert hat. Unscheinbar, aber sie hat es in sich. Credit: Robin Sluk

Kafkas Lebensfragen

Kafkas Erzählung „Vor dem Gericht“ hat einen ähnlichen Ort erschaffen: Ein Mann vom Land geht zu Gericht und findet das offene Tor bewacht. Er fragt den Torhüter, ob er eintreten könne. Der verneint und der Mann beschließt, zu warten. Auf einem Schemel wartet er sein ganzes Leben vor dem Tor. Immer wieder bittet er um Einlass, doch der Wächter weist ihn jedes Mal ab. In dem Moment, als er stirbt, erfährt der Mann, dass er sein Leben lang hätte eintreten können. Doch jetzt ist es zu spät.

Indem Kafka Tor, Torhüter, Bittsteller und Schemel zu einer einsamen Szene gruppiert und sonst nichts drumherum beschreibt, stellt er seine Erzählung jenseits von Raum und Zeit. Das Geschehen ist überall und nirgends. Ein zeitloses Beispiel für das Schicksal eines Menschen.

Orte dieser Art, wo man sich nachts wie Kafkas Mann vom Land fühlen kann, der auf Einlass in ein gut gehütetes Geheimnis wartet, findet man in Prag einige. Den Marienplatz (Mariánské náměstí) zum Beispiel, wo sogar Stühle stehen, auf denen man warten kann, und die zahlreichen Plätze auf der Kleinen Seite, in deren Mitte immer eine alte Uhr steht. Diese Orte vermitteln ein Gefühl, als warte man zwischen Himmel und Hölle auf einen göttlichen Richterspruch.

Und so fühle ich mich auch auf diesem Platz. Als wartete ich auf ein Urteil und die Uhr zeigt mir meine Lebenszeit an, die verstreicht, ohne dass das Urteil jemals fällt. Warum warte ich? Ich kann diesen Platz jederzeit verlassen, weitergehen und nicht mehr daran denken. Dennoch hält mich eine Entscheidung hier fest, die niemals fällt. Was erwarte ich? Dass jemand das abschließende Schlusswort über mein Leben fällt. Dass mir jemand sagt, wer ich bin. Selbst ein vernichtendes Urteil würde mich von dieser quälenden Ungewissheit befreien, es würde mich von dieser ständigen Möglichkeit freisprechen, dass etwas Ungekanntes und Furchtbares aus mir hervorbricht. Es ist ein ängstlicher Wunsch, einer, der sich niemals erfüllen darf. Eine Person ist am Ende, wenn sie ein für alle Mal festgelegt ist, ihr Leben – vorbei. Dennoch sehne ich mich manchmal danach, ich weiß nicht, warum.

Das Geheimnis einer Stadt

Was ich weiß, ist, dass Prag etwas in mir weckt. Die schwarzen Türme und die – inzwischen nicht mehr ganz so verwinkelten – Gassen der Altstadt, die mächtige Kathedrale auf dem Weg zum Hradschin, die verrußten Fassaden der großen Gründerzeithäuser an den Hauptverkehrsstraßen. Sie lassen mich etwas ahnen. Etwas liegt hier verborgen.

Das geht nicht nur mir so. Es ist faszinierend, dass diese Prager Atmosphäre über die Jahrhunderte hinweg Bestand hat, dass sie in unzähligen Texten von Prager Schriftstellern auftaucht und in immer neuen Variationen Eingang in die Literatur findet. Liegt es wirklich am Ort? Oder ist seine Atmosphäre aus dem Geist der Menschen gewachsen, die um diese Geschichten wussten, die sie vielleicht wie eine selbsterfüllende Prophezeiung mit ihrer Architektur in Gang brachten? War das Prager Geheimnis zuerst in den Köpfen der Menschen oder wuchs es von alleine aus der Stadt heraus?

Eine schwierige, vielleicht eine unsinnige Frage. Schließlich geht es nicht jedem so. Manch einer geht durch die Prager Altstadt ohne solche Erlebnisse. Nur denen, die sich für die Geschichten aus und über Prag begeistern können, fällt es leicht, diese Atmosphäre zu erspüren. Vielleicht sind es auch nur diese Geschichten, die den Zauber von Prag, einen dunklen und erdigen, einen düsteren und ewigen Zauber erzeugen.

Wenn ich durch die großen Torbögen der mittelalterlichen Häuser in der Altstadt gehe, dann sehe ich aus den Kellertüren Meyrinks Golem kommen. Dann stelle ich mir die Frage, unter welcher Laterne sie Herrn K. erstochen haben. Und ich frage mich, was diese Stadt zu der gemacht hat, was sie ist: die düstere Metropole an der Moldau. Ich habe noch zehn Wochen Zeit, um das herauszufinden.


Robin Sluk

Über unseren Landesblogger:

„Dobrý den. Jmenuji se Robin Sluk. Rád Vás poznávám.“

Zumindest die Vorstellung auf Tschechisch klappt schon einigermaßen. Was den Rest der Sprache anbetrifft, werde ich in den nächsten Monaten noch viel zu lernen haben.

Mit Tschechien verbindet mich die Geschichte meines Vaters, der als Sohn deutscher Eltern in Reichenberg (Liberec) aufwuchs und im August 1968 mit seiner Familie ausgewandert ist. Diese Ausreise war ein recht interessanter Vorgang, über den ich gerne in einem oder zwei Artikeln für das LandesEcho berichten werde. Insbesondere bin ich darauf gespannt, die Prager Kultur- und Literaturszene kennenzulernen und plane einige Artikel über die Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Prag.

Ursprünglich habe ich in Freiburg Philosophie und Mathematik studiert. Mein Ziel beim LandesEcho ist es, einige grundlegende journalistische Kompetenzen aufzubauen. Ganz fremd bin ich der schreibenden Zunft allerdings nicht: Neben der Arbeit bei LandesEcho sitze ich zur Zeit an meinem ersten größeren Projekt, einem literarischen Tagebuch über St. Petersburg, wo ich von August 2018 bis Juni 2019 gelebt habe.

Ich freue mich auf die Zeit in der Redaktion und hoffe, der Leserschaft einige lesenswerte Artikel präsentieren zu können. 

P.S.: Sofern ein Prager Leser oder eine Leserin daran interessiert ist, mit mir deutsch zu sprechen und mir dafür im Gegenzug etwas Tschechisch beibringen möchte, kann er oder sie mich unter der Adresse: praktikant@landesecho.cz erreichen.

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