Die Geschichte der tschechischen Hauptstadt ist untrennbar verbunden mit dem Einfluss deutschsprachiger Kultur. Auf ihre Spuren kann man sich mit der Handy-App „SAMSA“ begeben, die unsere Landesbloggerin einmal ausprobiert hat.
Im Dezember 2019 stellten das Institut für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität und die Landesversammlung der deutschen Vereine in Tschechien eine kostenlose App vor, die es ermöglicht, sich auf eigene Faust auf die Suche nach deutschen Spuren in Prag zu begeben. Unsere Landesbloggerin hat die App „SAMSA“ getestet.
Die Handy-App, die sich in ihrer Namensgebung dem Protagonisten aus Kafkas Werk „Die Verwandlung“ bedient, ist als Gemeinschaftsprojekt entstanden, wobei die Studierenden im Rahmen eines Seminars für die inhaltliche Umsetzung verantwortlich waren. An insgesamt 23 Orte im Kontext deutschsprachiger Kultur führt das integrierte Navigationssystem und bietet zu jeder Station umfassende Hintergrundinformationen. Insgesamt zehn Rubriken ermöglichen es, der Route einen thematischen Schwerpunkt zu geben und die Stationen einzugrenzen.
Bei einem Besuch des Kafka-Museums las ich zum ersten Mal von einem literarischen Kreis, dessen Anhänger sich die „Arconauten“ nannten, inspiriert durch den Namen des Versammlungsortes, den sie für ihre Zusammenkünfte gewählt hatten. Als ich das Café Arco auf der in der App integrierten Karte entdeckte, entschloss ich mich, meine Erkundungstour den „Begegnungsorten“ zu widmen.
Begegnungsorte
Eine romantisierte Vorstellung der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts erobert seit den letzten Jahren zunehmend Kinos und Fernsehen. Ob die Neuauflage des Filmklassikers „Der große Gatsby“ oder die deutsche Serie „Babylon Berlin“: Die „Goldenen Zwanziger“, als man sich analog zum Aufschwung der Wirtschaft, im Takt des Charleston über die Tanzfläche schwang und ein hedonistischer Lebensstil zum guten Ton gehörte, scheinen auch heute noch einen besonderen Charme zu versprühen. Neben der Wirtschaft erlebten auch Kunst und Kultur nach den dunklen Kriegsjahren eine Blütezeit.
Auch in Prag entstanden zahlreiche Orte, an denen sich Freigeister trafen, diskutierten und wo ein kultureller Umschwung zu spüren war. Es formierten sich Literaturkreise, philosophische Stammtische und eine gedanklich nach Westeuropa strebende Szene Intellektueller, die sich in Cafés, Hinterzimmern und Lesesälen trafen. Ähnlich wie in Woody Allens Klassiker „Midnight in Paris“ freute ich mich darauf, in ein Prag der 1920er Jahre zu reisen.
Café Arco
Wo sich einst die „Arconauten“ trafen, befindet sich heute die Kantine des tschechischen Innenministeriums. Foto: Lara Kauffmann
Neugierig, wo sich die „Arconauten“ trafen, machte ich mich zunächst auf den Weg zu einem der bekanntesten Prager Cafés des beginnenden 20. Jahrhunderts. Der Cafémeister Josef Suchánek richtete gegenüber dem heutigen Masaryk-Bahnhof (Masarykovo nádraží) 1907 ein Kaffeehaus nach dem Vorbild der großen Kaffeehäuser in Wien ein. Das durch den Architekten Jan Kotěra gestaltete Design, ein Lese-und Billard-Saal mit einer großen Auswahl an deutscher und tschechischer Literatur sowie ein zentraler runder Tisch, der zu Diskussionen und Autorenlesungen einlud, machten das Arco zu einem beliebten Treffpunkt. Autoren wie Franz Werfel, Willy Haas, Otto Pick, später auch Egon Erwin Kisch, Max Brod und Franz Kafka besuchten regelmäßig den Lesesaal des Cafés. Einst bekannt als Hauptsitz der Prager deutschen Literatur, im Besonderen der jüdischen, verlor das Café Ende der 1920er Jahre seine Bedeutung. Nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1990er Jahre diente es zunächst als Kneipe, bevor das tschechische Kulturministerium den traditionsreichen Ort aufwendig renovieren lies und zu Beginn dieses Jahrhunderts eine Kantine für das Innenministerium einrichtete. Zwar haben die „Arconauten“ den Planeten „Arco“ längst verlassen, so lohnt ein Besuch dennoch: In den Schaufenstern des Gebäudes zeigen Fotografien das Café in seinem ursprünglichen Zustand und Texttafeln informieren in englischer und tschechischer Sprache über die Geschichte des Ortes. Der Blick in die staubige Fensterauslage, hinter der in Schwarzweißbildern das Café zu seiner Blütezeit abgebildet ist, vermittelt fast den Eindruck, als sei man durch eine Zeitkapsel 100 Jahre in die Vergangenheit gereist und könne den intellektuellen Größen seiner Zeit beim Debattieren zuschauen.
Deutsches Haus
Nur wenige Meter vom Café Arco entfernt, in unmittelbarer Nähe des Prager Pulverturms, befindet sich das ehemalige „Deutsche Haus“. Das 1695 erbaute Barockgebäude beherbergte seit 1875 in seinen repräsentativen Räumlichkeiten den Verein „Deutsches Casino“. Das Haus nahm als Treffpunkt für über 200 deutsche Vereine eine wichtige Rolle im Leben der deutschsprachigen Bevölkerung in Prag ein. Der Spiegelsaal des Hauses wurde regelmäßig zur Bühne für Lesungen berühmter Dichter, wie Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, Gerhard Hauptmann oder Franz Kafka. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus der damaligen Tschechoslowakei wurde aus dem „deutschen“ das „Slawische Haus“ (Slovanský dům). Heute befindet sich in dem ehemaligen Vereinshaus ein Einkaufszentrum.
Das ehemalige „Deutsche Haus“ ist heute ein Einkaufszentrum. Foto: Lara Kauffmann
Café Montmartre
Ich verließ die breite Einkaufsstraße und folgte der Navigation der App in die engen Gassen der historischen Altstadt. 1911 gründete der Prager Schauspieler und Kabarettist hier in einer ehemaligen Brauerei das Café Montmartre und holte damit den Flair der französischen Hauptstadt nach Prag. Innerhalb kurzer Zeit avancierte das Café, das seit 1913 auch das Kabarett Mont-Waltner beherbergte, zu einem beliebten Treffpunkt für Künstler und Intellektuelle. Waltner hatte eine große Affinität zur Pariser Kabarettkultur und etablierte mehrere Kabaretts in Prag. Das „Montmartre“ fand auch in Egon Erwin Kischs Roman „Abenteuer in Prag“ Erwähnung. Der Autor und Journalist beschreibt, dass hier zum ersten Mal in der Habsburger Monarchie Tango getanzt wurde, ein Tanz, den der frankophile Cafébesitzer aus Paris mitbrachte. Neben Kisch waren Franz Kafka, Max Brod, Franz Werfel, Jaroslav Hašek, Gustav Meyrink, Paul Leppin und viele weitere Schriftsteller hier Stammgäste. Ungewöhnliche Öffnungszeiten, von 22 Uhr bis 10 Uhr morgens, sowie die internationale Ausrichtung des Cafés zeichneten das Montmartre aus. 1929 schloss das Café seine Türen und wurde erst 1999 von seinem heutigen Besitzer Milan Jaroš wiedereröffnet. Wie bereits in seinen Anfängen, empfing das Montmartre auch 70 Jahre nach seiner Schließung noch intellektuelle Prominenz, darunter auch Václav Havel.
Café Louvre
Nicht nur der Name ist dem berühmten Pariser Museum entliehen, auch die Bekanntheit des Cafés schaffte es über die Grenzen Prags hinaus. An der belebten Ferdinandstraße (Ferdinandova třída), wie sich die Nationalstraße (Národní třída) vor 1919 nannte, war das Café Louvre seit 1902 Anlaufstelle und kultureller Treffpunkt für Persönlichkeiten wie Franz Kafka, Max Brod und Berta Fanta. Auch Albert Einstein besuchte das Louvre während seiner Zeit in Prag regelmäßig. Der Gründer Adolf Pelc legte bei der luxuriösen Ausstattung besonderen Wert auf das kulinarische Angebot und eine große Auswahl an Spielen, Zeitungen und Revuen. In einem privaten Konferenzraum kam hier regelmäßig ein Philosophenkreis zusammen, deren Name, „Brentano-Kreis“, als Bekenntnis zum Gedankengut des deutschen Philosophen Franz Brentano zu deuten ist. Nach der kommunistischen Machtergreifung wurde das Café geschlossen und sein Interieur gewaltsam vernichtet, bevor es 1992 wiedereröffnet und seit 1995 seine Besucher wieder unter dem Namen Café Louvre empfängt. Block und Stift, die auf jedem der Tische ausliegen, erinnern an die literarische Vergangenheit des Cafés.
Café Union
Wo sich einst das Café Union befand, beherbergt ein Neubau heute eine Bank. Foto: Lara Kauffmann
Auf der SAMSA-Karte befindet sich in direkter Nachbarschaft des Café Louvre ein weiterer roter Punkt, der eine tragende Rolle in der Geschichte deutschsprachiger Kultur in Prag spielte. Wo sich heute ein moderner Glasbau in die Architektur der Flaniermeile einreiht, stand bis 1949 ein Gebäude, das das Café Union, von Gästen auch „Unionka“ genannt, beherbergte. Bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts befand sich in dem Haus, das 1941 durch die Gestapo geschlossen wurde, ein Wiener Kaffeehaus, das später in Café Union umbenannt wurde. Bildende Künstler, Schriftsteller, Musiker und Redakteure gelangten durch einen Seiteneingang ins Innere, das durch seine Raumaufteilung stark einem Labyrinth glich. Neben dem Café erlangte auch sein Oberkellner, František Patera lokale Berühmtheit und fand in mehreren Werken der literarischen Gäste Erwähnung.
Besonders in Zeiten, in denen der Kulturbetrieb stillsteht, ist die SAMSA-App eine tolle Möglichkeit, Prag kontaktlos unter alternativen Gesichtspunkten kennenzulernen und mehr über deutsche Spuren in Prag zu erfahren.
Mehr zur Entstehung der SAMSA-App lesen Sie hier.