Josef Seliger war bis zu seinem frühen Tod 1920 der führende Kopf der deutschböhmischen Sozialdemokratie. Vor Kurzem ist zum ersten Mal eine Biografie in tschechischer Sprache erschienen.
Es handelt sich um die erste Übersetzung des ursprünglich 1930 erschienenen Werkes von Emil Strauß und Josef Hofbauer. Die beiden Autoren hatten ihre Biografie im Auftrag der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei verfasst und wollten verhindern, dass Josef Seliger in Vergessenheit gerät. Dieses Ziel hat sich nun auch die tschechische Ausgabe gesetzt, die durch eine Zusammenarbeit der Seliger-Gemeinde, der Gesinnungsgemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokratie, und der Prager Demokratischen Masaryk-Akademie mit Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, entstanden. Für die interessierte Öffentlichkeit, aber auch für wissenschaftliche Kreise, bietet das Anfang des Jahres erschienene Buch einen reichhaltigen Fundus an Stationen aus dem Leben Josef Seligers (1870–1920). Mit dem verantwortlichen Redakteur der Ausgabe, Thomas Oellermann, haben wir gesprochen.
Thomas Oellermann. Foto: privat
LE Nach 1918 versuchte Seliger, alle Deutschen in den Böhmischen Ländern für seine Politik zu mobilisieren. War es überhaupt möglich, eine solche nationale Einheit herzustellen?
Diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten. Schauen wir auf die Jahre unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, könnte man den Eindruck gewinnen, dass diese Volksgruppe eins war. Die Politik des Selbstbestimmungsrechts von Josef Seliger und auch Rudolf Lodgman von Auen fand breite Unterstützung unter den Deutschen in den böhmischen Ländern. Das ist an sich schon recht interessant, da es sich ja um sehr unterschiedliche Gruppen handelte, allein geographisch betrachtet. Es gab starke regionale Identitäten und vor allem viele Dialekte. Ein Prager Deutscher konnte wahrscheinlich mit der Lebenswirklichkeit von Holzhauern im Böhmerwald nur wenig anfangen. Dennoch prägte sich eine gemeinsame Minderheitenidentität, bei der die Bezeichnung „sudetendeutsch“ zum Sammelbegriff wurde. Und obwohl das Sudetendeutsche in den 1930er Jahren durch Konrad Henlein und seine Sudetendeutsche Partei instrumentalisiert wurde, was letztlich ein böses Ende mit sich bringen sollte, hat sich diese gemeinsame Identität bis heute gehalten. Das verdeckt aber, dass es neben den regionalen vor allem auch große politische und soziale Unterschiede gegeben hat. Die Sudetendeutschen waren kein Volk der Gleichen – das zeigt auch der politische Kampf eines Josef Seligers.
LE Was war das Besondere an Seligers Minderheitenpolitik?
Geschichte lässt sich nun mal nicht zurückdrehen. Schaut man aber auf die mitunter so katastrophale gemeinsame Geschichte von Deutschen und Tschechen, ist es aus heutiger Sicht doch wichtig, zu erkennen, dass es in der damaligen Zeit realistische Alternativen gegeben hat. Das kann die schrecklichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts nicht umkehren. Es kann aber helfen, wenn man heute zwischen den Nationen in einen nachhaltigen Dialog treten will. Seligers Minderheitenpolitik war eine solche, gute Alternative zu der leider später eintretenden Entwicklung.
Josef Seliger wurde 1870 in Schönborn (Krásná Studánka), heute ein Stadtteil von Reichenberg (Liberec), geboren. Als Geselle begab sich Seliger auf Wanderschaft, die ihn nach Preußisch-Schlesien und bis nach Aachen führte, wo er in Kontakt mit der Arbeiterbewegung kam. Nach seiner Rückkehr nach Böhmen hielt er auf Versammlungen erste Reden und beeindruckte durch sein Talent. Er fand eine Anstellung im Teplitzer Konsumverein und begann, für die örtliche Arbeiterpresse zu schreiben. Unter seiner Leitung wurde die „Freiheit“ zum führenden sozialdemokratischen Blatt in den böhmischen Ländern.
Großen Rückhalt genoss Seliger auch nach dem Ersten Weltkrieg, als es darum ging, ob die deutschsprachigen Gebiete Böhmens und Mährens Teil der neugegründeten Tschechoslowakischen Republik werden sollten. Mit seiner Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht der Völker gelang es ihm, Menschenmassen auf die Straße zu bringen. Dass einige dieser Demonstrationen vom März 1919 blutig endeten, ist einer der Tiefpunkte der böhmischen Geschichte. Als die Grenzen der Tschechoslowakei durch die Pariser Friedensverträge bestätigt wurden, entwarf Seliger für seine Partei eine neue politische Strategie. Die Sozialdemokratie beteiligte sich nun konstruktiv an den Geschicken des Staates, um so Verbesserungen für die Deutschen der Republik durchsetzen zu können. 1920 zog aber bereits der nächste große politische Konflikt auf: Der kommunistische Flügel in der Sozialdemokratie betrieb eine Abspaltung. Auf dem Karlsbader Parteitag gelang es ihm noch einmal, die Einheit der Partei zu wahren. Entkräftet starb er aber kurz danach an einer verschleppten Erkrankung. Sein Begräbnis wurde begleitet von einer massenhaften Beteiligung, Teplitz stand an diesem Tag still. Wenige Jahre später wurde auf dem Wisterschaner Friedhof ein imposantes Grabmal eingeweiht. Die 1951 in der Bundesrepublik gegründete Nachfolgeorganisation der sudetendeutschen Sozialdemokratie benannte sich nach ihrem großen ersten Vorsitzenden: Seliger-Gemeinde. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, das Andenken an die politische Arbeit der Sozialdemokratischen Partei zu wahren. Die Herausgabe einer tschechischen Biografie ihres Namensgebers soll dies unterstreichen.
LE War Seligers Aktivismus, die Teilhabe am Staat, nicht aussichtslos, wenn man auf die späteren Jahre schaut?
Der Aktivismus, der ja nicht allein von den deutschen Sozialdemokraten, sondern auch von anderen demokratischen Parteien vertreten wurde, war und ist alternativlos. Demokratische Teilhabe und konstruktives Mitgestalten ist für eine Minderheit immer besser als sich zu verweigern oder gar radikale Lösungen anzustreben. Die Geschichte der sudetendeutschen Sozialdemokraten ist in ihrer Tragik schon sehr bestürzend. Sie blieben in schwersten Zeiten der Tschechoslowakei treu und wurden trotz dieser Loyalität nach dem Krieg des Landes verwiesen.
Was mich an dieser Geschichte aber auch immer fasziniert hat und das kann irgendwie auch ein Leitbild für heutige politische Herausforderungen sein: Die sudetendeutsche Sozialdemokratie hat es immer wieder verstanden, sich neu zu erfinden, neue politische Strategien zu entwerfen, ohne dabei ihre Grundsätze über Bord zu werfen.
LE Was ist das politische Vermächtnis Seligers für die Zukunft?
Das Erbe Seligers ist für mich vor allem ein starkes Bekenntnis zur Demokratie. Des Weiteren der feste Glaube daran, dass in der Demokratie Probleme politisch gelöst werden können. Das ist für mich das Vermächtnis des sudetendeutschen Aktivismus. Seliger steht zugleich für mich für die politische Alternative, die es im Zusammenleben von Deutschen und Tschechen gegeben hat. Zu den großen Tragödien des 20. Jahrhunderts musste es nicht zwingend kommen. Diese Erkenntnis ist Reklame für die Demokraten gestern und die Demokraten heute.
Das Gespräch führte Richard Neugebauer
Anfang des Jahres erschien die erste Biographie Josef Seligers in tschechischer Sprache. „Josef Hofbauer/ Emil Strauß: Josef Seliger. Obraz jednoho života. Olomouc 2021“. Erschienen im Verlag Burian und Tichák. Erhältlich im tschechischen Buchhandel.