Ich fuhr zur ungarisch-serbischen Grenze. In mir die Hoffnung einige Flüchtlinge zu finden, die ich fotografieren könnte, um der statistischen Masse ein paar individuelle Gesichter zu geben. Schon vor der Reise war ich hin- und hergerissen. Einerseits wollte ich fahren, andererseits aber auch nicht. Ein Teil von mir bereute früh die lange Reise, die Gefahr, die Ungewissheit. Doch mein seelisches Pendel schwang vor und zurück, meine Neugier und der Wunsch, die Situation besser zu verstehen, war stärker.
Meine politische Einstellung gegenüber der Einwanderungsfrage war immer neutral. Schließlich ist es ein vielschichtiges Problem, das man aus verschiedenen Blickwinkeln angehen kann. Ich habe Antworten gesucht, auf Fragen, wie: Wer sind diese Leute? Was bewegte sie dazu die Grenze zu überqueren, ihr altes Leben und alles, was damit verbunden war, zurück zu lassen? Sich in ein unbekanntes neues Leben zu begeben, in eine ungewisse Zukunft in Europa.
Als erstes fand ich Kinder, geboren in einem Land, in dem sie nicht aufwachsen werden. Ich traf sie auf der Straße. Sie waren auf dem Weg in ein Land, in dem eine Sprache gesprochen wird, die sie noch nie zu vor gehört hatten. Ich hatte mich von Prag aus aufgemacht, um Menschen zu treffen, die an der Grenze leben, um ihre Meinung zu den Geschehnissen dort zu hören. Ich fragte einen jungen Mann, Attila, ob er denkt, dass die Ungarn wütend über den Zaun waren, der ihre Grenze nun schützen soll. „Nein“, sagte Attila. Über den Zaun, der Flüchtlinge draußen hält, seien sie nicht wütend. „Eher darüber, dass wir nicht alle erschießen dürfen.“
Aber nicht alle Ungarn teilen diese Sichtweise. Blanka, eine junge ungarische Mutter erzählte mir, dass sie sehr traurig über den Zaun sei und auch über die negative Haltung vieler ihrer Freunde und Familienmitglieder. Einmal nahm sie eine Flüchtlingsfamilie über Nacht bei sich im Haus auf, auf die sie im Regen getroffen war. Anfangs vertraute ihr die Familie nicht, doch nach einigem guten Zureden gingen sie mit ihr mit und hatten so wenigstens für eine Nacht ein Bett und ein Dach über dem Kopf. Blanka berichtete mir nun, Monate später, dass sie immer noch wöchentliche Anrufe des Vaters der Familie erhält. Er sagt: „Hallo“ und sie sagt: „Hallo“. Dann fragt sie „OK?“ und er antwortet: „OK” und dann redet er einige Minuten auf Paschtun, auch wenn er weiß, dass sie die Sprache gar nicht spricht. Es ist offensichtlich, dass sie das Leben seiner Familie stark beeinflusst hatte. Ich versprach ihr, ihre Geschichte mit anderen zu teilen.
Eine serbische Studentin, Lea, die ich in Subotica, traf, erzählte mir dass sie und ihre Freunde etwas Ähnliches getan hatten. Sie sammelten Decken, Schlafsäcke und nahezu unbenutzte Kleidung und brachten diese persönlich zu den Flüchtlingen. Lea und ihre Freunde gaben ihnen sogar Töpfe und Pfannen zum Kochen. Das sei zwar schon alles ein bisschen älter gewesen, meinet sie. Ich sagte ihr, dass das wohl kaum zählen würde. Wichtig sei doch der Wille zu helfen.
Ein Sozialarbeiter aus Ungarn, Krisztian, erzählte mir, dass es irgendwie auch ihm helfen würde, wenn er anderen hilft. Als ich in seine Augen sah, verstand ich, was er meinte. Er erzählte mir, dass er aus einer kaputten Familie kam, Mutter drogensüchtig, Vater Alkoholiker, und er daher vollkommen verstehen könne, wie es sich anfühlt in Not zu sein. Krisztian hatte vorher schon freiwillig bei Projekten in Afrika mitgemacht, wo er merkte, dass er nicht jedem helfen könnte. Ein Mal kam ein sechsjähriges Mädchen zu ihm mit schweren Wunden an beiden Händen und am Rücken. Er konnte dem Mädchen nicht mehr helfen, da die Wunden schon schwer infiziert waren und die Familie in einem Dorf ohne medizinische Versorgung gestrandet war. Das war der Ausschlag gebende Moment, in dem er verstand.
Die Hoffnung am Leben zu bleiben stand in den Augen der kleinen Gruppe von syrischen Schülern, die ich an der serbisch-kroatischen Grenze traf. Sie erzählten mir, dass sie gar nicht flüchten wollten, ihnen aber gar keine Wahl blieb. Die fünf erzählten, dass man, sobald man mit der Schule fertig ist, in die Armee gesteckt wird. Die Wahl: töten oder getötet werden. Das Problem ist aber, dass sich momentan so viele verschiedene Gruppen im Krieg befinden, dass eigentlich niemand mehr weiß, wer eigentlich gegen wen kämpft.
Um die Stimmung etwas zu lockern fragte ich ob es auch Schüler gibt, die ihre Abschlussarbeit mit Absicht nicht bestehen. Sie erzählten, dass sogar viele es machen würden, das aber nur zwei Mal klappt. Danach wird man entweder aus der Schule geworfen und dann in die Armee gesteckt oder man besteht die Prüfung und wird dann in die Armee gesteckt. Die Armee braucht so dringend neue Kräfte, dass sie alles unternimmt, um diese zu bekommen. Die fünf Studenten hatten einen Freund, dem drei Mal ins Bein geschossen wurde. Als er immer noch auf Krücken lief, steckten die ihn gleich wieder in den Dienst, wo er sofort erschossen wurde. Sie sagen, selbst Blinde werden eingezogen.
Ich fragte einen von ihnen ob seine Eltern wollten dass er in Syrien bleibt. Nein, sie wollten, dass ich gehe, sagte er. Natürlich wollten sie mich nicht verlieren, aber sie sagten „Geh einfach“. Danach fragte ich ihn, wie es sich anfühlt ein Flüchtling zu sein. Er brauchte etwas, um nach einer Antwort zu suchen, sagte dann aber: „Es ist schwer. Das hier ist nicht unser Land“. Er begann weiter zu erzählen von kleinen Dörfern, die sie auf dem Weg durchquert hatten, den kalten Nächten, den langen Märschen, die sie zurückgelegt hatten und den Familienmitgliedern, die sie vermissen. Sie ließen sie zurück, aber tragen sie dennoch mit sich: „Es ist ähnlich wie mit einem brennendem Haus“, sagte mir einer der Syrer, „du wischst die Asche ab, hustest den Rauch aus, bist froh das du es lebend raus geschafft hast und versuchst nicht über die nachzudenken, die noch im Haus festsitzen.“
Die Flüchtlinge sitzen auch fest. In einer Zwickmühle. Sie haben Angst vor der Gegenwart, sind verzweifelt wegen ihrer Vergangenheit und haben Hoffnung für die Zukunft. Sie überwinden alle Schwierigkeiten, die sich ihnen in den Weg stellen und kommen doch nicht vom Weg ab auf der Suche nach einem neuen Zuhause.
Antonio Cossa, ein Fotograf aus Mozambique ging an dem mehr als zweihundert Kilometer langen Zaun entlang und fotografierte, was er dort so fand. Neben Schuhen, Jacken, Spielzeug und Decken fand er auch einen Koran. Der Koran lag nur fünf Schritte von der Grenze. Der Flüchtling trug Gott lange bei sich, aber floh über die Grenze ohne ihn. „Es gibt Zeiten, in denen Gott zurück bleiben muss. Es gibt Zeiten, wo du ein Handy mehr brauchst“, sagte Antonio. Das ist eine der wichtigsten Sachen, die die Flüchtlinge benötigen. Sie tauschen sich so mit anderen über die Grenze aus, wo sie sich öffnet oder schließt, was schlaue Reiserouten sind und wo man über Nacht bleiben kann.
Außerdem beinhalten die Smartphone GPS, welches den Flüchtlingen den Weg weist. Die internationalen Grenzen sind für die Flüchtlinge am schlimmsten. Einige erzählten mir, dass die bulgarische Grenze die schrecklichste sei. An dieser Grenze wurden sie geschlagen, gepeitscht und sogar mit Elektroschocks misshandelt. Der Schmerz in ihren Augen zeigte mir, dass es wahr war, was sie sagten.
Ich sah junge Männer auf der Straße sitzen, alte Frauen, die ihre Enkelkinder vor dem Schmutz der Straße schützen und Kinder die mir mit verwunderten Augen nach sahen. Ein Flüchtling in seiner kleinen Welt, ging frei an mir vorbei.
Der Autor dieses Fotoessays, Lucien Zell, ist in den 1990er Jahren aus den USA nach Prag geflüchtet, wo er als freischaffender Dichter, Schriftsteller und Fotograf lebt.
Diesen Fotoessay finden Sie auch in der Print-Ausgabe des LandesEcho 10/2015.
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