Tomáš Zelinka mit seinen "Schülern". Foto: Isabelle Wolf

Jeden Samstag zeigen wir Ihnen Artikel aus unserem Archiv, die unsere Leserinnen und Leser besonders spannend fanden. Es geht weiter mit einem Beitrag über eine Prager Seniorengruppe, die sich regelmäßig zum Deutschlernen trifft.

Die Sonne scheint freundlich durch die Fenster des Seniorenzentrums Burešova im Norden Prags. Um einen Tisch herum sitzen zehn Männer und Frauen, allesamt mit deutsch-tschechischen Wörterbüchern, Arbeitsblättern und Notizheften ausgestattet. Es ist die erste Stunde des Deutsch-Konversationskurses für Senioren aus dem Stadtteil Prag 8 nach den Sommerferien. Die Stimmung erinnert an die Schulzeit. „Ich habe alles vergessen“, sagt Alena Neubertová, eine der Teilnehmerinnen des Kurses, und die anderen stimmen ihr lachend zu. Zweieinhalb Monate lang haben sie einander nicht gesehen, entsprechend groß ist auch die Freude über das gegenseitige Wiedersehen.

Der Leiter des Kurses heißt Tomáš Zelinka und ist 86 Jahre alt. In Hamburg geboren und aufgewachsen, zog er später mit seiner Familie nach Prag. Bis 1945 sei man dort gut durchgekommen mit der deutschen Sprache, erinnert sich Zelinka. Anschließend habe er auf der Arbeit viel mit Deutsch zu tun gehabt und auch in der Familie ab und an Deutsch gesprochen: „Wenn die Kinder etwas nicht hören sollten, haben meine Frau und ich das auf Deutsch besprochen. Da wussten sie dann schon, dass es um was Geheimes geht.“ Mittlerweile hat er Enkel, und auch die sprechen Deutsch – allerdings mit österreichischem Akzent. „Manchmal sind sie nicht ganz leicht zu verstehen“, sagt Zelinka lachend.

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Zu seinem 80. Geburtstag machte ihn der Stadtrat des achten Prager Stadtteils auf das kostenlose Kursangebot für Senioren aufmerksam, darunter auch auf einen Deutschkurs. Den habe er besucht, aber dieser habe ihm nicht gefallen, wie seine Frau verrät. Später besuchte Zelinka einen anderen Deutschkurs, der sei schließlich sehr gut gewesen und dann habe auch seine Frau selbst am Kurs teilnehmen müssen. Aufgrund einer Erkrankung der Kursleiterin habe sich der Rentner vor zwei Jahren entschieden, den Konversationskurs von ihr zu übernehmen und selbst zu leiten. Es gibt nichts, was dagegen spricht: Sein Deutsch ist ausgezeichnet, noch dazu mangelt es nicht nur in Prag an Lektoren für deutsche Sprache.

Der Kurs findet einmal wöchentlich statt. Dann treffen sich die rund zehn Teilnehmer des Kurses im Seniorenzentrum, dem „Centrum aktivizačních programů pro seniory Burešova”, was so viel heißt, dass die älteren Menschen hier angehalten werden, aktiv zu bleiben. Der Kurs startet mit einer Begrüßungs- und Erzählrunde, dann folgen Übersetzungen ins Deutsche, Grammatikaufgaben. Ab und an übersetzt Zelinka eine den Teilnehmern unbekannte Redewendung, erklärt Dinge und fragt nach. Die hohe Motivation aller Teilnehmer ist zu spüren.

Obwohl die Grammatikaufgaben durchaus knifflig sind – es geht um die Unterscheidung der Reflexivpronomen des dritten und vierten Falles – machen alle fleißig mit. Gegenseitig verbessern sich die Kursteilnehmer. „Ich wasche MICH, aber ich wasche MIR die Hände, so heißt es doch, nicht wahr?“ – „Genau“, entgegnet eine Teilnehmerin namens Jarmila.

Jeder hat hier seinen angestammten Platz, so scheint es. Untereinander kennen sich die Teilnehmer gut, einige von ihnen besuchen den Kurs bereits seit vielen Jahren. Die Atmosphäre ist freundlich und vertraut, man berichtet sich gern von den eigenen Erlebnissen – sei es nun auf Deutsch oder auf Tschechisch. „Es heißt ‚Küüüche‘, nicht ‚Kiiiche‘!“, ruft Herr Zelinka in die Runde und die Senioren lachen – der Aussprachefehler ist allen wohlbekannt. Es ist niemand dabei im Kurs, dem die deutsche Sprache vollkommen fremd ist. Das wäre wohl auch nicht möglich bei dem Vokabular: Hülsenfrüchte, Kreuzritter, Scheißwetter. „Scheißwetter, das ist, wenn es draußen regnet und eklig ist“, erklärt der 86-Jährige, und seine Schüler vermerken sich das Wort in ihren Notizheften. Es scheint, sie lernen hier nur die wirklich wichtigen Vokabeln.

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Viele besuchen den Kurs, weil sie einst in der Schule oder noch von den Eltern Deutsch gelernt, dann aber den Kontakt zu der Sprache verloren haben. So auch Jiří Neužil. Noch im Jahr 1944 habe er den verpflichtenden Deutschunterricht seines Gymnasiums besucht und einen großartigen Deutschlehrer gehabt. Nach dem Krieg habe es dann aber nur noch vereinzelt freiwillige Deutschstunden gegeben. Langsam sei die deutsche Sprache in Vergessenheit geraten. So geht es auch den anderen. Manche von ihnen verbrachten viele Jahre in Deutschland, andere haben dort oder in Österreich bis heute Bekannte und Verwandte. Sie alle haben sich vorgenommen, im Rentenalter noch einmal anzufangen und ihre Fremdsprachenkenntnisse wieder aufzufrischen oder sogar auszubauen. Einige besuchen neben dem Deutsch-Konversationskurs obendrein noch einen Englischkurs. Wo die Deutschstunde stattfindet, ist unwichtig: „Manchmal treffen wir uns für den Kurs auch einfach auf ein Bierchen in der Kneipe nebenan“, berichtet Zelinkas Frau und ergänzt: „Das ist wichtig, damit wir etwas zu tun haben und nicht nur zuhause sitzen.“

Nach anderthalb Stunden bleibt die Erkenntnis, dass Sauerkirschen auch „Weichseln“ genannt werden und man das sogar im Tschechischen so sagen kann – „vajxle“. Und vor allem: Eine Fremdsprache zu lernen ist offenkundig keine Frage des Alters.


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Nick Hrádek ist ein 22 Jahre junger Jurastudent. Im Augenblick lebt und studiert er in Halle an der Saale, aber von März bis Ende April war er Praktikant im Büro des Präsidenten des Abgeordnetenhauses der Tschechischen Republik. Das war ihm auch deshalb möglich, weil er fließend tschechisch spricht. Denn er ist mit Tschechisch und Deutsch aufgewachsen.

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