Nationale Minderheiten kommen in tschechischen Geschichtslehrbüchern für Schulen bis zur neunten Klasse fast nicht vor.
Vor einiger Zeit berichteten Medien, dass das Bildungsministerium Änderungen an den Rahmenbildungsplänen vornehmen und detailliertere Informationen über die Geschichte und Gegenwart der Roma aufnehmen werde. Die Änderungen sollten vor allem in neu erscheinenden Lehrbüchern festgehalten werden. Dem ohnehin überladenen Lehrplan weitere Themen hinzuzufügen, löst aber nicht den Kern des Problems.
Roma und Juden als Randbemerkung
Seit mindestens zwei Jahrzehnten wird gefordert, der Geschichte von Minderheiten mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Schulbuchautoren und -verlage reagieren darauf, indem sie am Ende des Kapitels oder an den Seitenrändern Kästchen mit Titeln wie „Juden“ oder „Interessantes“ anfügen. In diesem begrenzten Raum wird beispielsweise die Geschichte der Roma im 19. Jahrhundert auf eine allgemeine Beschreibung reduziert: „Ende des 19. Jahrhunderts sind seitens der staatlichen Organe Bemühungen um Toleranz und Ansiedlung der Volksgruppe der Roma wahrzunehmen, was zu einer schnelleren Assimilation führen würde.“ So können Verlage behaupten, dass die Geschichte der Roma Inhalt ihrer Lehrbücher ist, die Schüler jedoch können sich aus diesem einzelnen Satz kein konkretes Bild machen. Eine aktivere Arbeit mit Quellen oder damit verbundenen historischen Fragestellungen wird nicht angeboten.
Das größte Problem ist aber nicht die Menge an Informationen, sondern die Tatsache, dass Lehrbücher die Geschichte verschiedener ethnischer Gruppen als separate Geschichten darstellen. Die größte Aufmerksamkeit wird der Geschichte der Tschechen gewidmet, wobei die Geschichte der Tschechischen Republik als Geschichte der tschechischsprachigen Bevölkerung präsentiert wird.
Dabei lebten in den böhmischen Ländern vom Mittelalter bis Mitte des 20. Jahrhunderts verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen und die einzelnen Nationalitäten konnten nicht klar voneinander getrennt werden. Das Bemühen der Autoren der Lehrbücher, den Nationalitätenmix in die richtigen Kästchen einzuteilen, erweist sich beispielsweise bezüglich bedeutender Wissenschaftler und Künstler als problematisch. Gustav Mahler und Sigmund Freud finden sich hier im Kapitel „Deutsche Literatur und Wissenschaft in den böhmischen Ländern“ wieder, dort in der Seitenleiste als „Juden“. In diversen Lehrbüchern wechselt Johann Gregor Mendel vom Kapitel „Deutsche“ in das Kapitel „Entwicklung der Wissenschaften in der Welt“. Die Bewohner der böhmischen Länder konnten gleichzeitig unterschiedliche Identitäten haben oder sie im Laufe ihres Lebens verändern.
Deutsche – Projektionsfläche der tschechischen Geschichte
Die einzige ethnische Gruppe, deren Geschichte und Erfahrung einen wichtigen Teil der tschechischen Geschichte darstellen, sind die deutschsprachigen Bewohner der böhmischen Länder. Ihre Geschichte ist eine Projektionsfläche – sie bildet den Hintergrund, vor dem die Geschichte der „Tschechen“ geschildert wird, die bis heute vor allem als gelungenes Duell mit diesen „Deutschen“ interpretiert wird. Dabei wird nicht darauf geachtet, dass die Idee zweier so klar getrennter Gruppen Teil dieses Kampfes ist. Aber auch diese Projektionswand hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten verändert.
Das Thema der Vertreibung ist für alle Lehrer, mit denen wir zusammenarbeiten, wichtig. Sie wollen den Schülern unterschiedliche Ansichten und Erfahrungen aus dieser historischen Epoche präsentieren. Die Wahrnehmung dieses Ereignisses hat sich in der tschechischen Gesellschaft in Richtung einer größeren Sensibilität für das Leid verschoben, das die Vertreibung den Deutschböhmen gebracht hat, sowie für die Verluste für die tschechische Gesellschaft. Die Lehrbücher reagieren auf diese Verschiebung der Wahrnehmung und konzentrieren sich bis auf wenige Ausnahmen auch auf die deutschen Erfahrungen und die Beschreibung der Grausamkeiten, die mit der Vertreibung einhergingen.
Das ist lobenswert, aber die Neuntklässler könnte es verwirren, da sie die Deutschen im Lehrbuch bisher nur als Ausländer kennengelernt haben. Der Rest des Geschichtslehrplans wurde nämlich nicht der gleichen Reflexion unterzogen wie der Lehrplan über das 20. Jahrhundert. Der Inhalt des Lehrplans über das 19. Jahrhundert oder das Mittelalter hat sich im Bereich der deutsch-tschechischen Beziehungen nicht verändert und schafft immer noch die Idee der „Tschechen“, die schon immer hier lebten, und der „Deutschen“, die erst später kamen. Daher fällt es Schülern ab der zweiten Hälfte der 9. Klasse schwer, das deutsch-tschechische Verhältnis umfassender wahrzunehmen.
Der Wandel der Schulbücher blieb damit unvollendet und das Bild von der deutschsprachigen Bevölkerung gespalten. So fragt ein fortschrittliches Lehrbuch am Ende des Kapitels, nachdem es erklärt hat, dass die Schuld keinen kompletten ethnischen Gruppen zugeschrieben werden kann: „Wie stehen Sie zur Ansicht einiger Leute, dass Deutschland einen neuen Krieg beginnen könnte?“
Slowaken – jüngere Brüder
Die Situation der Geschichte der Slowakei und der Slowaken ist spezifisch. Obwohl Lehrbücher vorgeben, die Kapitel über den Zeitraum 1918–1989 seien die Geschichte der Tschechoslowakei, handelt es sich in Wirklichkeit um die Geschichte der Tschechen (und Deutschen) in der Tschechoslowakei und die Geschichte der tschechischen Perspektive auf die Slowakei.
In den Kapiteln zur Gründung der Tschechoslowakei zeichnen die Lehrbücher noch immer ein Bild der Slowaken als Nation der „jüngeren Brüder“. Der jüngere Bruder sei dem Ungarismus nur dank der Errichtung der Tschechoslowakei entkommen, aber die gegenseitige Notwendigkeit beider Nationen für die Staatsgründung wird nicht erwähnt. Über die Slowakei und die Slowaken wird hauptsächlich im Kontext der geforderten Autonomie geschrieben, die auch oft negativ konnotiert und kontextlos beschrieben wird.
Geschichte neu schreiben!
Die obigen Beispiele verdeutlichen die Randstellung der Geschichte ethnischer, sprachlicher und religiöser Minderheiten in Lehrbüchern. Sicher hat sich in den letzten 20 Jahren eine Verschiebung vollzogen und einige Verlage versuchen, Lehrbücher mit modernen Inhalten und didaktischer Aufbereitung anzubieten. Gleichzeitig ändern sich kleinere Passagen, meist aus dem öffentlich diskutierten 20. Jahrhundert, oder die fehlenden Themen werden am Ende einfach in Form von Kästchen hinzugefügt. Die Geschichte anderer Nationalitäten ist damit allerdings immer noch kein integraler Bestandteil der tschechischen Geschichte.
Diese Kritik ist keineswegs neu. In Tschechien gibt es viele Organisationen im Bereich der geschichtlichen und gesellschaftlichen Bildung, die diesen Geschichtsansatz in Unterrichtsmaterialien umsetzen, z. B. das Institut der Initiative Theresienstadt oder der Bürgerverein „Pant“. Auf der Webseite des Multikulturellen Zentrums Prag finden Lehrer Arbeitsblätter und Methoden, die speziell auf die multiethnische Geschichte der böhmischen Länder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgerichtet sind. Die veröffentlichten Lehrmaterialien bieten eine konkrete Lösung für die in diesem Artikel geäußerte allgemeine Kritik.
Aus dem Tschechischen von Lucia Vovk