Die Initiative „Meeting Brno“ wird an diesem Wochende mit dem Menschenrechtspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaften ausgezeichnet. Mit dem LandesEcho sprachen vor Kurzem Matěj Hollan und Petr Kalousek über die Hintergründe ihres gesellschaftlichen Engagements.
LE: Spielte ihre familiäre Herkunft bei Ihren Aktivitäten im deutsch-tschechischen Bereich eine Rolle?
Matěj Hollan: Ja. Ich wurde in eine Familie von gesellschaftlich engagierten Physikern hineingeboren, die sich aber bald auf Ökologie spezialisierten und im zivilgesellschaftlichen Bereich aktiv waren. Mütterlicherseits war es eine deutsche Familie ⎻ mein Großvater war Deutscher. Bis 1936, als seine Familie die tschechische Nationalität angegeben hat. Beide Eltern meines Großvaters waren Deutsche. Meine Urgroßmutter Luise Gailly Polaschek war eine wichtige Persönlichkeit im Brünner Kulturleben.
Warum sie beschlossen, sich als Tschechen zu erklären, weiß ich nicht. Ihre Kinder besuchten deutsche Schulen und alle Klassenkameraden von Opa waren Deutsche oder Juden. Meine Großtante Marianna Gailly arbeitete als Gouvernante im Haus der Familie Löw-Beer und ging mit Jüdinnen aus reicheren Familien in eine Klasse. Diese Familien dachten leider, dass ihnen nichts passieren könne. Sie wurden alle von den Nazis ermordet.
Die Jungen aus der Klasse meines Großvaters mussten sich dann zur Wehrmacht melden, viele überlebten und zogen in die freie Welt hinaus. Die Klasse meines Großvaters traf sich regelmäßig, seine Klassenkameraden unterstützten Großvater finanziell und luden ihn und seine Familie zu Reisen ins Ausland ein, wenn das Regime es erlaubte.
Es hätte also nicht viel gefehlt, und mein Großvater, seine Schwester und seine Mutter wären am 30. Mai 1945 in Anwendung des Prinzips der Kollektivschuld auf drastische und illegale Weise aus Brünn vertrieben worden. Genau wie die Familien seiner Klassenfreunde.
Petr Kalousek: Bei mir spielte das eigentlich keine Rolle. Ich bin in Brünn geboren, ebenso wie meine beiden Eltern, und liebe diese Stadt. So begann ich, mich für ihre Geschichte zu interessieren, und mit der Zeit erfuhr ich, dass die deutschsprachige Bevölkerung 1945 drastisch und meiner Meinung nach sinnlos vertrieben wurde. In der Schule hat man uns nichts darüber erzählt.
Ein erheblicher Teil dieser Menschen mag Hitler und Henlein aktiv unterstützt haben. Aber ich würde sie eher als Opfer von bösen populistischen Politikern sehen, die die Gunst der Stunde nutzten, um die Macht zu ergreifen. Und wir wissen, dass das in einer Katastrophe endete. Eines der Opfer war die Familie meines Großvaters, der in Kathrein [tsch: Kateřinky, heute ein Ortsteil von Troppau (Opava), Anm. d. Red.] geboren wurde und im Herbst 1938 nach Brünn fliehen musste. Obwohl er den deutschen Namen Spiller trug, war mein Urgroßvater im Sokol und anderen tschechischen Organisationen aktiv. Eines Tages wollte ihn die Gestapo zu Hause abholen, er war aber nur ein paar Stunden zuvor untergetaucht. Ein anderer Urgroßvater von mir war Major in der Armee der Ersten Republik und wurde von den Nazis im Kaunitz-Studentenheim in Brünn gefangen gehalten. Er starb bald nach dem Krieg an den Folgen seiner Inhaftierung. Jedes Jahr im Kaunitz-Wohnheim bei der Kranzniederlegung im Rahmen des Festivals erinnere ich mich an ihn, obwohl ich ihn natürlich nie kennenlernen konnte.
LE: Sie wurden zu Bürgeraktivisten und Politikern. Warum?
Petr Kalousek: Irgendwann beschlossen wir, uns aktiv an der Verwaltung der Stadt zu beteiligen. Uns störte, wie die Stadt verwaltet wurde. Im Jahr 2014, als ich zu Matěj Hollan und seiner politischen Bewegung Žít Brno stieß, begann sich hier viel zu bewegen. Die Menschen unserer Generation verbrachten eine gewisse Zeit im Ausland und viel davon, was sie dort erfahren haben, wollten sie in Tschechien umgesetzt sehen. Ich wage zu behaupten, dass sich die Atmosphäre in der Stadt zwischen 2014 und 2018 wirklich zum Besseren verändert hat, und ich hoffe, dass wir zumindest ein bisschen dazu beitragen konnten. Zumindest, indem wir unser Bedauern über die Ereignisse Ende Mai 1945 zum Ausdruck gebracht haben.
LE: Der Brünner Versöhnungsmarsch wurde von Jaroslav Ostrčilík initiiert, heute findet er im Rahmen des Festivals Meeting Brno statt. Wie und wann haben Sie sich daran beteiligt?
Matěj Hollan: Ich kannte Jaroslav Ostrčilík von den Grünen und wusste von seiner Tätigkeit, aber erst mit unserem Erfolg bei den Wahlen im Herbst 2014 kam Petr Kalousek mit dem Thema, inspiriert von Kateřina Tučkovás Roman „Vyhnání Gerty Schnirch“ [dt. Titel: „Gerta, das deutsche Mädchen“, Anm. d. Red.]. Gemeinsam kamen wir auf die Idee, dass die Stadt Brünn zum 70. Jahrestag des Kriegsendes eine offizielle Erklärung zu den Nachkriegsereignissen abgeben sollte. Peter und ich wandten uns zunächst an Sie, Herr Jeřábek. Damals waren Sie Leiter der Abteilung für Außenbeziehungen im Magistrat und sagten uns: „Meine Herren, Sie würden über Ihren eigenen Schatten springen.“ Wir hatten Glück in der Person von Petr Vokřál, dem damals neuen Oberbürgermeister. Er hatte lange Zeit Unternehmen in Österreich geleitet, hatte ein herzliches Verhältnis zu deutschen Themen und hatte keine Angst.
Petr Kalousek: Als ich die Idee für die Versöhnungserklärung hatte, begann ich auch zu recherchieren, was in diesem Bereich bereits getan worden war. Ich stieß auf die Initiative von Ondřej Liška aus dem Jahr 2000 und auch auf Jaroslav Ostrčilík und seinen Marsch. Mit Ondřejs Erlaubnis verwendeten wir Teile seines Textes in der Erklärung, und Jaroslav und ich kamen überein, den Marsch größer zu machen, ihn Versöhnungsmarsch zu nennen, was die Idee vom katholischen Priester Jan Hanák war, und seine Richtung umzukehren [Seit 2015 findet der Versöhnungsmarsch symbolisch in der umgekehrten Richtung statt – von Pohrlitz (Pohořelice) bis zum Augustinergarten in Alt-Brünn, Anm. d. Red.], was wiederum der Naturwissenschaftler und Aktivisten Tomáš Mozga angeregte.

LE: Mit der Versöhnungserklärung von 2015 wurde Brünn zur ersten Stadt im ehemaligen Ostblock mit einer solchen Geste.
Matěj Hollan: Und es hat viel Aufmerksamkeit erregt. Petr Vokřál hat dafür österreichische und deutsche Auszeichnungen erhalten. Wir als Stadt hatten plötzlich überall im deutschsprachigen Raum eine offene Tür. Leider hat sich nach unserem Ausscheiden aus dem Rathaus die Entfaltung der Beziehungen nicht fortgesetzt. Das Potenzial wurde also nicht voll ausgeschöpft, aber es gab dennoch viel Resonanz. Und es entstand „Meeting Brno“, in den ersten Jahren als ein von der Stadt organisiertes Festival, das mehrere Meilensteine markierte.
Petr Kalousek: Es war großartig, als 2015 der große Umzug durch die Wiener Straße zurück zum Altbrünner Mendel-Platz zog und alle Glocken in Brünn dazu läuteten. Sie, Herr Jeřábek, sagten, dass wir vielen Menschen ein einmaliges Erlebnis bereitet hätten, etwas, worauf sie 70 Jahre lang gewartet hätten. Damals dachte ich, dass Sie ein wenig übertrieben haben, aber im Nachhinein sehe ich, dass Sie recht hattesn. Ebenso wurde mir erst später klar, dass die „Erklärung der Versöhnung und der gemeinsamen Zukunft“, die wir verfasst hatten, auch nicht gerade unbedeutend war. Wir ernteten die Kritik des damaligen Präsidenten Miloš Zeman, des sozialdemokratischen Kreishauptmanns von Südmähren, Michal Hašek, und seines Parteikollegen Zdeněk Škromach. Wenn Menschen ohne moralische Werte etwas kritisieren, ist das ein Beweis dafür, dass die Sache richtig ist.
Eigentlich dachte und wünschte ich mir damals, dass die Bedeutung der Erklärung allmählich verblassen würde, da sich andere Gemeinden und Städte dem Beispiel Brünns anschließen und versuchen würden, sich ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen, und dass es Dutzende solcher Erklärungen geben würde. Zehn Jahre sind vergangen, und es hat sich nichts dergleichen getan, außer, dass – dafür danke ich ihnen aufrichtig – ein paar Kommunalpolitiker nach Saatz [tsch. Žatec] kamen, wo letztes Jahr ein ähnlicher Marsch wie der unsere stattfand – zum Gedenken an das schreckliche Massaker in Postelberg [tsch. Postoloprty]. Aber es war wieder eine Bürgerinitiative, die meisten Politiker haben immer noch Angst.
LE: Ein Meilenstein war zweifellos die Gründung des Festivals „Meeting Brno“ 2016, und ein weiteres bedeutendes Jahr war 2017, mit dem symbolträchtigen Treffen dreier jüdischer Familien, welche die Stadt – kulturell und wirtschaftlich – maßgeblich geprägt hatten.
Matěj Hollan: Das Treffen von Vertretern der Familien Tugendhat, Löw-Beer und Stiassni in „ihren“ Villen und Gärten bleibt unvergesslich. Wir dachten, dass ein paar Leute kommen würden. Am Ende waren es fast 120 Menschen aus vier Kontinenten, im Alter von drei bis 80 Jahren, für die wir ein intensives Programm über mehrere Tage vorbereitet hatten. Viele waren zum ersten Mal in ihrem Leben in Brünn, und viele sahen auch ihre Verwandten zum ersten Mal. Seitdem stehen sie untereinander und mit uns in regem Kontakt. Daniel Low-Beer ist seitdem aktiv geblieben, vor allem engagiert er sich für die Rettung der Schindler-Fabrik in Brünnlitz [tsch. Brněnec]. Wir brachten die Familien dorthin, und als Daniel die Verwüstung sah, sprang er mit aller Kraft ein. Petr Kalousek wurde Vorstandsmitglied seiner Stiftung.
Petr Kalousek: Daniel und ich arbeiten gemeinsam an der Rettung und Restaurierung der durch den Film berühmten ehemaligen Schindler-Fabrik, die einst der Unternehmerfamilie Löw-Beer gehörte. Thomas Keneally, der Autor von „Schindlers Liste“, hat uns besucht und wird wiederkommen. Im Mai werden wir das erste Gebäude des Museums eröffnen. Dabei war es 2017 eine komplette Ruine und wir haben uns tatsächlich gefragt, ob wir es der Familie zeigen sollten. Hätten wir das nicht getan, wäre die Fabrik jetzt vielleicht nur noch ein Haufen Ziegelsteine.
LE: Was hat Sie zum Deutschen Kulturverein Region Brünn gebracht?
Matěj Hollan: Die bereits erwähnten familiären Wurzeln. Ich würde gerne ein Teil davon sein, was in der Generation meines Großvaters und meiner Großtante noch möglich war – eines friedlichen Zusammenlebens der beiden sprachlichen Zweige der Stadt. Ich identifiziere mich als Tscheche, aber mit einer starken Neigung zu Deutschland, insbesondere zu Bayern, und der Deutsche Kulturverein ist so eine gute Oase.
Petr Kalousek: Sie, Herr Jeřábek, haben mich zum Verein gebracht, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin. Abgesehen davon, dass ich dort Deutschunterricht nehmen kann, gehe ich auch zu regelmäßigen Treffen, bei denen Deutsch gesprochen wird. Und das Wichtigste ist, dass es dort sehr interessante, gebildete und kluge Menschen gibt. Wenn ich Professor Šrámek über Dialekte und die Etymologie von Namen oder Milan Uhde über so ziemlich alles reden höre, ist das ein Konzert!
Das Gespräch führte Mojmír Jeřábek
Matěj Hollan (40)
Nach dem Bischöflichen Gymnasium in Brünn studierte er Musikwissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität, setzte sich gegen Spielsucht ein und engagierte sich ab seinem 23. Lebensjahr in der Brünner Politik, zunächst als Aktivist gegen die damalige Führung des Rathauses. Nach dem Erfolg der bürgerpolitischen Bewegung Žít Brno war er vier Jahre lang stellvertretender Bürgermeister. Matěj Hollan ist Mitverfasser der Brünner Versöhnungserklärung von 2015. Nachdem er bei den Wahlen 2018 gescheitert war, engagiert er sich im Anti-Drogen-Bereich und in der Kulturbranche.
Petr Kalousek (44)
Nach dem Gymnasium absolvierte er das Brünner Konservatorium und die Janáček-Akademie für Musik und Darstellende Kunst. Er wurde Mitglied der Mährischen Philharmonie Olmütz (Olomouc) und später der Brünner Philharmonie und des Orchesters des Stadttheaters Brünn. Seit 2014 ist er in der Brünner Kommunalpolitik aktiv. Er ist Initiator hinter der Verabschiedung der Brünner Versöhnungserklärung, Mitbegründer des Festivals „Meeting Brno“, und Mitglied des Kuratoriums der Archa-Stiftung der Familie Löw-Beer und Oskar Schindler.
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