Hanna Zakharis Familie erlebte das Kriegsende 1945 in Brünn. Einen besonderen Schrecken erlebte ihre Mutter Suse, als diese auf den „Brünner Todesmarsch“ geschickt wurde.
Aus dem Tagebuch meines Vaters und aus früheren Familienerzählungen (eher Tuscheleien der „Erwachsenen“) war das Ende des Krieges für meine Brünner Familie mit vielen Schrecken verbunden.
Der Roten Armee eilte ein miserabler Ruf voraus. Plündern, stehlen, vergewaltigen. Sie nahmen die gesamte Aussteuer meiner Mutter, Tischtücher mit kunstvoll eingestickten Monogrammen, Handtücher und wer weiß was noch einfach aus dem Schrank und mit. Die Armbanduhr meines Vaters, eine Erinnerung, der Soldat hatte Berichten zufolge mindestens zehn dieser Uhren an beiden Armen. „Davaj davaj“, riefen sie. Jeden Tag soffen sie bis zum Umfallen, danach tanzten sie Kasatschok auf dem Familienklavier. Die Spuren der Stiefel sah man noch Jahre später auf der oberen Klavierplatte. Nachdem sie betrunken waren, zerbrachen sie die Kristallgläser der Familie, indem sie sie auf dem Boden schmissen. Ein modernes Spülklosett kannten sie nicht – die Toilette des kurz vor dem Krieg gebauten Einfamilienhauses sah entsprechend aus. Einer von ihnen vergewaltigte sogar eine alte Frau in der Nachbarschaft, die mittags in den Garten ging, um Gemüse zu holen.
In das Haus meiner Eltern wurde ein Arzt mit seiner Frau einquartiert. Sie sagten, sie kämen aus Odessa. Der Arzt war im nahen Lazarett – der dazu umfunktionierten örtlichen Schule – beschäftigt. In seiner Abwesenheit soll die Ehefrau regelmäßig vertrauliche Unterhaltungen mit einem der anderen Soldaten gepflegt haben. Meine Mutter berichtete einmal sogar über ein intimes Detail, dessen Zeugin sie zufällig wurde. Der Doktor war ein anständiger Mensch, nur mein Vater machte sich in seiner Abwesenheit um meine Mutter Sorgen – und ließ sie nicht aus den Augen.
Eines Tages wurde meine Mutter aufgefordert, sich am Feuerwehrhaus des Ortes einzufinden, sie solle Sachen für drei Tage mitnehmen. Der Doktor soll bei dem Packen der Tasche zufällig anwesend gewesen sein. Er guckte eine Weile zu, nahm ihr die Tasche aus der Hand und mit einem Ruck schüttete er sie aus, befahl, ein Kissen, Würfelzucker und ein paar andere Dinge mitzubringen und einzupacken. Meine Mutter wagte nicht zu widersprechen.
Das Feuerwehrhaus, an dem sich schon viele Leute befanden, war der Beginn des Fußmarsches an die österreichische Grenze, ein Weg, der später in der Geschichte den Namen „Brünner Todesmarsch“ erhalten sollte. Meine Mutter erzählte später, wie froh sie in Pohrlitz (Pohořelice) über das Kissen gewesen sei, man schlief wohl am blanken schmutzigen Zementboden.
Daheim bedrängte der Doktor meinen Vater, Angestellter eines Brünner Weinerzeugungsbetriebs, „Spiritus“ zu beschaffen. „Wir tauschen Spiritus gegen Benzin und fahren der Suse nach. Wenn sie uns die Suse nicht übergeben, ‚budjem streljat‘ (dt. „dann werden wir schießen“)“, sagte er.
Mein Vater fürchtete sich vor dem, was da wohl noch kommen mag. Er zögerte, Mutter hatte wohl unterwegs aus Raigern ein Lebenszeichen herausschmuggeln können, außerdem gab es nichts Hochprozentiges zu der Zeit, auch in Weinhandlungen nicht. „Wir haben Benzin aufgetrieben, zieh dich an, wir fahren los und holen die Suse“, kam der Doktor nach zwei Tagen angerannt. „Großer Gott. Alles ist schlimm genug und jetzt das“, muss sich wohl mein Vater gedacht haben. Und während er überlegte und versuchte, die Sache hinauszuzögern, öffnete sich die Hintertür des Hauses – und meine Mutter kam rein. Sie kam bis nach Österreich und aus Drasenhofen wurde sie wieder zurückgeschickt. Es heißt, der der Doktor habe sich wie ein Kind gefreut.
Als der Aufenthalt der russischen Soldaten zu Ende ging, gab der Doktor meinem Vater (im Tagebuch festgehalten) ein winziges Geschenk. Eine Pille: Zyankali. „Sollte das Schlimmste eintreten“, waren die Worte des Doktors. Nur Gott weiß, was er wusste oder ahnte.
Ich bin kein Historiker, aber die Soldaten der Roten Armee wurden, als sie zurückkamen, wohl nach Sibirien deportiert. Stalin hatte Angst. Schließlich könnten sie den Bürgern erzählen, wie das Leben im „Westen“ ist – auch während des Krieges.
Was wohl aus dem Doktor und seiner Frau geworden ist, in ihrem Odessa?