Mit freimütiger Unbefangenheit wandte sich die gesprächige Dame bald zu diesem, bald zu jenem Gast der Gesellschaft. Credit: Rübezahl – Sagen und Legenden um den Herrn des Riesengebirges. Verlag Carl Ueberreuter, Wien – Heidelberg. 3. Auflage 1954.

In einem Kurort trifft eine Gräfin auf einen Arzt, welcher vorgibt, sie nicht zu kennen, dabei hat er sie doch erst vor Kurzem behandelt?

Einmal ist eine Gräfin mit ihrer Begleitung wohlbehalten im Bad angelangt. Das Erste, was sie tat, war, den Badearzt zu sich berufen und ihn über ihren Gesundheitszustand zu befragen. Und wer trat zur Tür herein? Eben jener Arzt, der sie zuvor auf einer Burg im Gebirge behandelt hatte.

„Willkommen, lieber Doktor!“, riefen Mutter und Töchter wie aus einem Munde. Und die Gräfin fügte hinzu: „Sie sind uns zuvorgekommen. Wir vermuteten Sie noch auf der Burg unseres Freundlichen Gastgebers im Gebirge. Warum haben Sie uns dort verschwiegen, dass Sie der Badearzt sind?“ – „Ach, Herr Doktor“, fiel das eine Fräulein ein, „mich schmerzt der Fuß noch immer von Ihrem Aderlass: Ich werde nicht tanzen können.“

Der Arzt überlegte lange, konnte sich aber nicht erinnern, die Damen je gesehen zu haben. „Euer Gnaden verwechseln mich offenbar mit jemandem anderen“, meinte er dann: „Ich hatte bisher nicht das Vergnügen, Sie persönlich kennenzulernen, habe auch keinen bekannten Gutsbesitzer im Gebirge und bin überhaupt während der letzten Monate nicht aus dem Kurort hinausgekommen.“

Die Gräfin konnte nicht begreifen, warum der Arzt die Bekanntschaft mit ihr und ihren Töchtern nicht zugeben wollte. Schließlich hielt sie es für Bescheidenheit und erklärte: „Ich verstehe Sie, lieber Doktor, aber Ihre Zurückhaltung geht zu weit: Sie soll mich nicht abhalten, mich als Ihre Schuldnerin zu bekennen und für Ihren Beistand dankbar zu sein.“

Sie nötigte ihm darauf eine goldene Dose auf, die der Arzt jedoch nur als Vorauszahlung annahm, um die Dame nicht unwillig zu machen.

Der Doktor war keiner jener Ärzte, die nur Pillen und Arzneien verordnen, sondern verstand sich auch darauf, seine Kunden mit netten kleinen Anekdoten den Aufenthalt im Bad angenehm zu gestalten und ihre Lebensgeister dadurch aufzumuntern. Da er nach dem Besuch der Gräfin seine üblichen Krankenbesuche antrat, hatte er Gelegenheit, die sonderbare Unterhaltung mit dieser überall weiterzuverbreiten, und erreichte dadurch, dass die ganze Badegesellschaft neugierig war, die Bekanntschaft dieser Dame zu machen.

Als die Gräfin dann mit ihren Töchtern im Speisesaal erschien, bot sich ihr ein überraschender Anblick: Da war die gleiche Gesellschaft versammelt, die sie vor einigen Tagen auf der Burg im Gebirge kennengelernt hatte, es war für sie kein fremdes Gesicht im Saal. Mit freimütiger Unbefangenheit wandte sich die gesprächige Dame bald zu dem, bald zu jenem in der Gesellschaft, nannte jeden bei Rang und Namen, sprach viel von ihrem freundlichen Gastgeber und wusste schließlich nicht zu erklären, was das fremde Benehmen aller der Herren und Damen zu bedeuten habe, da man doch noch vor Kurzem so freundschaftlich miteinander verkehrt hatte. Zu guter Letzt gelangte die Gräfin zur Annahme, es sei abgekartete Sache, und der Burgherr würde der Komödie durch sein Erscheinen bald ein Ende machen.

Die Badegesellschaft hinwiederum schloss aus dem sonderbaren Betragen der Gräfin, man habe es mit einer überspannten Person zu tun, und jedermann bemitleidete sie. Diese dagegen erriet die Meinung der andern aus deren Mienen und glaubte, die beste Widerlegung des entstandenen Vorurteils sei die Erzählung ihres Abenteuers im Walde. Man hörte ihr aufmerksam zu, wie man einem Märchen lauscht, von dem man kein Wort glaubt.

„Wunderbar!“, riefen alle Zuhörer, als sie geendet hatte, und sahen bedeutsam den Doktor an, der bedauernd die Achseln zuckte und sich insgeheim gelobte, die Kranke nicht eher aus seiner Pflege zu entlassen, als bis das mineralische Heilwasser des Bades das Abenteuer aus dem Gehirn der Patientin weggespült habe. Die Gräfin redete auch nicht weiter davon, als sie sah, dass sie doch keinen Glauben fand, und der Arzt schrieb dieses Schweigen der heilenden Wirkung des Bades zu.

Nachdem die Kur beendet war und die schönen Fräulein genug getanzt hatten, kehrten Mutter und Töchter wieder nach Hause zurück. Sie nahmen mit Absicht den Weg über das Riesengebirge, um versprochenermaßen bei dem gastfreien Burgherrn einzukehren.

Von ihm hoffte die Gräfin auch die Lösung des Rätsels zu erhalten, warum sich die Badegesellschaft so wildfremd benommen habe. Aber niemand wusste den Weg zu der Burg noch war der Besitzer zu erfragen, dessen Name weder diesseits noch jenseits des Gebirges bekannt war.

Jetzt erst rang sich die Gräfin zu der Überzeugung durch, der Unbekannte, der sie in Schutz genommen und beherbergt hatte, sei niemand anderer gewesen als Rübezahl, der Berggeist. Sie gab zu, dass er in sehr vornehmer Weise an ihr Gastrecht geübt habe, verzieh ihm seine Neckerei mit der Badegesellschaft und glaubte von nun an an die Existenz der Geister, obwohl sie diese Ansicht nicht gern bekannte.

Rübezahl aber kehrte nach diesem Geschehnis in sein unterirdisches Reich zurück, und lange Zeit hörte man nichts mehr von ihm.

Zusammengetragen von Irene Kunc

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