Tschechiens Wählerinnen und Wähler müssen sich für einen neuen Präsidenten entscheiden. In der Stichwahl am 27. und 28. Januar stehen Ex-Premier Andrej Babiš, der nachweislich für den tschechoslowakischen Geheimdienst (StB) spitzelte, und der ehemalige Nato-General Petr Pavel, der vor der Wende ebenfalls das Parteibuch der Kommunisten besaß und eine Ausbildung in der Militärspionage durchlief. Unser Autor Hans-Jörg Schmidt fragt sich, wann Tschechien einen „unbescholtenen“ Präsidenten bekommt.
Man stelle sich in Deutschland – oder wegen der besseren Vergleichbarkeit – in Ostdeutschland eine Wahl um ein absolutes politisches Spitzenamt vor, um das ein steinreich gewordener früherer Stasi-Mann und ein ehemaliger hoher NVA-Offizier mit Militärspionage-Ausbildung streiten. Zugegeben ist das wohl nur sehr schwer vorstellbar.
In Tschechien ist das gerade Realität. Mehr als 33 Jahre nach der „Wende“ wählen unsere EU-Nachbarn und Nato-Verbündeten einen neuen Präsidenten und haben genau diese Auswahl. Was ist los mit den Tschechen? Hängen sie so an der vermeintlich „guten alten Zeit“ des sozialistischen Unrechtsregimes? Oder sehen sie nur anders auf die Vergangenheit? Gewollt oder gezwungenermaßen?
Eine genaue Antwort darauf zu geben, ist schwer. Man muss zurück gehen bis zum ersten „Nachwende“-Präsidenten Václav Havel. Der saß insgesamt fünf Jahre wegen seines Widerstands gegen das Regime im Gefängnis, wo man ihm die Gesundheit ruinierte. Er aber prägte ungeachtet dessen den Satz: „Wir sind nicht so wie sie“. Im Klartext: „Anders als die Kommunisten grenzen wir niemanden aus, geben jedem eine zweite Chance.“ War Havel zu naiv? Oder zwangen ihn die Gegebenheiten zu solch einer Aussage?
Zunächst stimmt das mit der „zweiten Chance“ nicht durchgängig. Wer nach 1989 bei den Nachbarn in den öffentlichen Dienst wollte, musste sich „durchleuchten“ lassen. Die, denen etwas nachzuweisen war, fielen durch den Rost. Viele davon klagten aber vor Gericht ihre „Unbescholtenheit“ ein. Diejenigen, die „Herrschaftswissen“ aus der alten Zeit mitbrachten, nutzen das häufig, um sich in der entstehenden Privatwirtschaft zu etablieren und in den „wilden 1990er Jahren“ zu wundersamem Reichtum zu gelangen.
Havel umgab sich auf der Prager Burg anfangs zwar mit einem großen Stab von Beratern. Aber das waren meist intellektuelle Mitstreiter aus der überschaubaren Szene der Dissidenten und Leute, die aus dem Exil nach Prag geeilt waren, um ihm unter die Arme zu greifen. Wirkliche Experten waren die Ausnahme, etwa der nichtkommunistische Finanzfachmann Václav Klaus.
Unter Havel wurde mit Marian Čalfa notgedrungen ein früherer Kommunist zum Regierungschef ernannt, weil der Präsident von dessen Fähigkeiten überzeugt war. Einen gestandenen „Wessi“ – wie es etwa Kurt Biedenkopf für die Sachsen war – hatte Havel nicht zur Hand. Tschechien hatte kein „West-Tschechien“. Man war jenseits des Erzgebirges allein auf sich angewiesen. Das eröffnete vielen personellen „Altlasten“ eine neue Karriere, die erwähnte „zweite Chance“.
Petr Pavel, einer der beiden Präsidentschaftskandidaten für die Stichwahl, war einer, der diese Chance nutzte. Er stammte aus einer Offiziersfamilie und ging logischerweise auch selbst zur Armee. Mehr oder weniger automatisch wurde er Mitglied der Staatspartei KSČ und begrüßte mit vielen Jahren Abstand den Einmarsch des Warschauer Pakts 1968 in die ČSSR. Er belegte einen dreijährigen Kurs für den Militärnachrichtendienst, wovon nur das erste Jahr in die „alte Zeit“ fiel. Der militärische Nachrichtendienst war zudem kein repressiver Arm des kommunistischen Regimes.
Nach der „Wende“, die Pavel heute selbst als „Befreiung“ beschreibt, nutzte er die neuen Möglichkeiten, lernte Sprachen und studierte an Militärhochschulen in Großbritannien. Während eines Auslandseinsatzes im früheren Jugoslawien rettete er mit einer von ihm geführten Fallschirmjägertruppe 50 französische Soldaten aus einer ausweglosen Lage im Kampfgebiet zwischen Kroaten und Serben, was ihm den höchsten französischen Orden eintrug. In Tschechien arbeitete er sich zum Chef des Generalstabs hoch und wurde 2015 als erster Vertreter aus dem alten „Ostblock“ zum Vorsitzenden des Nato-Militärausschusses gewählt. Mehr ging nicht.
Pavel selbst sagt nicht zu Unrecht, dass er seit der „Wende“ seine Entwicklung unter dem alten Regime mehr als wettgemacht hat. Trotzdem musste er in den letzten Wochen immer wieder seine „Jugendsünden“ erklären. Die haben viele davon abgehalten, ihn zu wählen.
Diese Wähler tendierten mehr zu am Ende unterlegenen Kandidaten der ersten Runde. Etwa zur einzigen Frau, der früheren Universitätsrektorin Danuše Nerudová, die 1989 erst zehn Jahre jung war und somit von der Geschichte unbelastet ins Rennen gehen konnte. Für die Stichwahl haben diese „sauberen“ Kandidaten aber Pavel ihre Unterstützung zugesichert. Weil Pavels Gegenkandidat, Ex-Premier Andrej Babiš, aus ihrer Sicht das „größere Übel“ ist.
Babiš schoss sich gleich nach dem Ende der ersten Runde der Wahlen massiv auf Pavel ein, Er nennt ihn einen „Karrieristen“, der mit der Waffe in der Hand „jedem Regime“ dienen würde. Als Nachrichtendienstmann sei er im Grunde nicht besser gewesen als der KGB-Mann Wladimir Putin in Dresden.
Besonders perfide ist die landesweit riesig plakatierte Behauptung, dass Pavel die Tschechen „in den Ukraine-Krieg reinziehen“ wolle, während er, Babiš, als Präsident seine Kontakte für eine „Ukraine-Friedenskonferenz in Prag“ spielen lassen werde. Als Putin widerrechtlich die Krim besetzte, war Babiš Premier. Damals war von einer „Friedenskonferenz in Prag“ bei ihm nicht die Rede. Das Pavel-Lager spricht denn auch nur von einem „hohlen Trick“ des Ex-Premiers, „um die Prager Burg zu erklimmen“.
Dass ausgerechnet Babiš Pavel dessen „Jugendsünden“ vorhält, erscheint Außenstehenden als aberwitzig. Der frühere Regierungschef Babiš ist vor der „Wende“ im Außenhandel tätig gewesen, was einer privilegierten Stellung im Sozialismus gleichkam. Auf seinen dabei gewonnenen Kenntnissen baute er nach 1989 den heute größten tschechischen Konzern Agrofert auf, einen Mischkonzern, in dem unter anderem Düngemittel und Lebensmittel hergestellt werden und zu dem auch einflussreiche Medien gehören, die ihm wegen seiner Meistgebote von bis dahin deutschen Zeitungseigentümern verkauft wurden, denen Babišs große politische Ambitionen absolut gleichgültig waren. Agrofert beschäftigt in Tschechien und unter anderem in Deutschland mehr als 40.000 Menschen. Babiš ist Dollar-Multimilliardär und gilt als derzeit fünftreichster Tscheche. Auch wenn sein Konzern derzeit unter Treuhandverwaltung steht, ist ein massiver Interessenkonflikt zwischen dem Unternehmer und dem Politiker Babiš offenkundig.
Auch Babiš hat seine „Jugendsünde“. Der gebürtige Slowake war in Bratislava unter dem Decknamen „Bureš“ als Zuträger des kommunistischen Staatssicherheitsdienstes StB registriert, wovon zehn verschiedene Dokumente zeugen. Basiš leugnet die Spitzelarbeit vehement, hat wiederholt in der Slowakei vor Gericht geklagt, jedoch bislang angesichts der Beweislage erfolglos.
Die Anhänger von Babiš machen sich durchaus tiefere Gedanken über dessen Vergangenheit. Es sind vor allem ältere Tschechen, viele davon mit dem kommunistischen Regime verbunden. Zur „Wende“ gab es 1,7 Millionen Mitglieder der Kommunistischen Partei. Babiš, der selbst seit 1980 Mitglied der Staatspartei war, gibt ihnen in einer ansonsten antikommunistischen Gesellschaft im heutigen Tschechien das offenkundig wärmende Gefühl, dass da jemand ist, der ihnen nicht komplett ihre „Lebensleistung“ abspricht. Schließlich sei er „einer von ihnen“ gewesen.
Dass Babiš keinen Interessenkonflikt hat, sehen seine durch nichts zu erschütternden Anhänger durch die jüngste Entscheidung eines Gerichts in Prag bestätigt, das ihn vom Vorwurf der Beihilfe zum Betrug mit EU-Subventionen freisprach, obzwar EU-Behörden den Fall völlig anders sahen. Für seine Fans ist Babiš ein „politisch Verfolgter“.
Als Unternehmer mag Babiš zwar reichlich Gewinn machen, räumen sie achtungsvoll ein. Aber er denke – anders als die derzeitige „asoziale“ Regierung, die den Gegenkandidaten Pavel unterstütze – auch an die Bedürftigen, sagen vor allem die Rentner, eine seiner wichtigsten Wählergruppen. Er habe als Premier die Altersrenten sage und schreibe um ein Viertel angehoben.
Dass Babiš damit auch zu einer exorbitanten Verschuldung des Staates beigetragen habe, stört die Rentner logischerweise nicht. Und selbst wenn er für die Stasi gespitzelt habe, stehe er heute an der Seite vor allem der bedürftigen Menschen in Tschechien. Das, und nur das sei wichtig. Nicht umsonst lautet das Wahl-Credo des Ex-Premiers: „Ich helfe den Menschen. Pavel hat für die Tschechen seit seinem Ausscheiden aus der Armee keinen Handschlag getan.“
Was ist also wahlentscheidend in Tschechien? Und welche Rolle spielt dabei die Vergangenheit? Am Nachmittag des 28. Januar werden wir mehr wissen. Auf einen gänzlich „unbescholtenen“ Präsidenten in Tschechien müssen wir zumindest fünf weitere Jahre warten.