Anfang Juli übernimmt die Tschechische Republik die EU-Ratspräsidentschaft. Dabei setzt sie auf die Schlüsselthemen Demokratie, Sicherheit, Ukraine und Energie. Ein Kernthema, welches Tschechien in Europa angehen wollte, fehlt aber.
In den nächsten sechs Monaten übernimmt Tschechien den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Dabei ist es Tradition, eng mit dem Vorgänger und Nachfolger zusammenzuarbeiten, um einen roten Faden in der Arbeit der Union sicherzustellen. Deshalb folgen die Vorhaben der Republik einem Trio-Programm, das mit dem Vorgänger Frankreich und dem Nachfolger Schweden aufgestellt wurde.
Europa als Aufgabe
Vor gut einer Woche stellte die tschechische Regierung schließlich ihr eigenes Programm für die kommenden Monate vor. Das steht unter dem Motto „Europa als Aufgabe“ (Evropa jako úkol). Damit bezieht sich die tschechische Regierung bewusst auf einen Vortrag des damaligen tschechischen Präsidenten Václav Havel, der unter dem Titel „Europa als Zukunftsaufgabe unseres Kontinents“ 1996 zu einer umfassenden Reflexion europäischer Politik aufrief. Damals forderte Havel, dass Europa sein Gewissen wiederentdecken und Verantwortung für ökologische, soziale und wirtschaftliche Probleme übernehmen solle.
Ein ambitioniertes Vorhaben, dem die reale Politik schwer gerecht werden kann. Premier Petr Fiala hat dieses Motto wahrscheinlich mit großer Sorgfalt ausgewählt, als Politikwissenschaftler weiß er um die Bedeutung Havels und seiner Außenpolitik. Diese wurde im aktuellen Regierungsprogramm sogar als Leitlinie für das Auftreten Tschechiens auf internationalem Parkett herausgegeben. Die Politik der kommenden Monate muss nun beweisen, dass die Werbung mit den Ideen des wohl beliebtesten tschechischen Politikers nicht bloße Öffentlichkeitsarbeit bleibt. Für große grundlegende Reflexionen Europas wird in einer Zeit, die von Krisen geprägt ist, kaum Platz sein. Das Programm ist durch zwei Länder geprägt, die nicht zu den Mitgliedern der Union gehören, durch Russland und die Ukraine. Neben dem Umgang mit den Folgen des Angriffskrieges Russlands will Tschechien die Gelegenheit allerdings auch nutzen, um die europäischen Werte der Demokratie in den Fokus zu nehmen. Die lange von Tschechien versprochene EU-Erweiterung hat es allerdings nicht in den Kernbereich des Programms geschafft.
Europäische Sicherheitspolitik im Zeichen russischer Aggression
Nichts prägt die europäische Politik gerade so sehr, wie Russlands Krieg in der Ukraine. Der erste Krieg seit den 1990ern im ehemaligen Jugoslawien stellt die Union vor schwere Aufgaben und Fragestellungen. Tschechien, einer der engsten Partner der Ukraine, setzt den Umgang mit dem Land daher an die erste Stelle des Programms. Die tschechische Ratspräsidentschaft verspricht eine politische und militärische Unterstützung der Ukraine und die Solidarität der EU. Ebenso soll die gemeinsame Bewältigung der Flüchtlingskrise und der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg oberste Priorität in der europäischen Staatengemeinschaft erhalten.
Doch auch die direkten Folgen des Krieges auf die Bürger der EU stehen im Fokus der tschechischen Ratspräsidentschaft. Hierbei wird vor allem die Energiesicherheit zum zentralen Thema werden. Die Abhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle soll gelöst und ein schneller Übergang zu emissionsarmen und erneuerbaren Energiequellen ermöglicht werden. Wenig überraschend ist, dass die Tschechische Republik hierbei nicht nur auf erneuerbare Energien setzen möchte. Energiesicherheit und EU-Klimaziele will Tschechien mittels Kernenergie erreichen, ein Vorhaben, das für Kontroversen in Europa sorgen könnte.
Mit der Bedrohung West- und Mitteleuropas durch den Angriffskrieg Russlands steigt auch das Sicherheitsbedürfnis innerhalb der EU-Regierungen. Deshalb setzt Tschechien auch die Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit und die Cybersicherheit auf ihr Programm. Die strategische Widerstandsfähigkeit der EU soll sich allerdings nicht nur auf den militärischen und digitalen Raum beschränken. Auch die europäische Wirtschaft soll überdacht und mit Fokus auf grüne und digitale Aspekte gezielt gestärkt werden. Dabei sollen internationale Lieferketten und Abhängigkeiten vor dem Hintergrund internationaler Sicherheitspolitik genauer beleuchtet und umstrukturiert werden, um auch in Krisenzeiten konkurrenzfähig zu bleiben.
Vertiefung der europäischen Integration an Stelle der versprochenen Erweiterung
Neben diesen materiellen Schwerpunkten will die Tschechische Republik allerdings auch eine zentrale Idee Europas widerstandsfähiger machen: die der Demokratie. Der europäische Wohlstand beruhe auf funktionierenden demokratischen Mechanismen, so das Programm Tschechiens zur Ratspräsidentschaft. Tschechien wolle sich auf die Stärkung von Freiheiten und europäischen Werten konzentrieren und die Umsetzung des Europäischen Aktionsplans für Menschenrechte und Demokratie in Angriff nehmen. Damit zielt die tschechische Präsidentschaft auf die Vertiefung der europäischen Integration ab und forciert die Einheit der EU in seinen Werten der Demokratie gegenüber der Aggression des autoritären Russlands.
Eine andere Art der europäischen Integration tritt dabei allerdings in den Hintergrund, die der Erweiterung. Auch wenn diese bestimmt Gegenstand von Verhandlungen und Gesprächen sein wird, vor allem was die Mitgliedschaft der Ukraine betrifft, so überrascht es doch, dass diese nicht in den Kernthemen aufgeführt wird. Tschechien hatte in seinem Regierungsprogramm die EU-Erweiterung auf dem Balkan zu einem ihrer Hauptanliegen gemacht. Dieses ist in den Vorhaben zur Ratspräsidentschaft allerdings nicht präsent. Fraglich bleibt, was die Gründe hierfür sind. Frankreich hat sich in den letzten Jahren öfter gegen eine Erweiterung auf dem Balkan ausgesprochen, wird hier der Einfluss des Trio-Programms sichtbar?
Gerade Nordmazedonien hat in den vergangenen Jahren eine beeindruckende demokratische Wende und Europäisierung erfahren, dies könnte durch einen Beitritt gestärkt werden. Ein weiteres Ignorieren Nordmazedoniens könnte allerdings langfristig zu Frustrationen führen, Bulgarien blockiert die Aufnahme allerdings mit einem Veto. Serbien hingegen scheint ein immer schlechterer Kandidat für die EU zu werden. Unter dem Regime von Aleksandar Vučić wurde die Demokratie bei dem Beitrittskandidaten stetig abgebaut und der serbische Regierungschef suchte verstärkt die Nähe zu Putin und Russland – und zwar bis heute. Von den Zielen und Werten der EU entfernt sich das Land also immer mehr. Diese verfahrene Situation zeigte sich auch vor einigen Tagen in den Ergebnissen der Westbalkan-Konferenz. Der Beitritt Nordmazedoniens wurde weiter blockiert und Serbiens Nähe zu Russland sorgte weiter für Bedenken. Vielleicht war es also auch die enttäuschende Situation bei den Beitrittsgesprächen mit den Westbalkan-Staaten, die dafür sorgte, dass Tschechien dieses heiße Eisen erst einmal nicht mehr anfassen möchte.
Was auch immer die Gründe der tschechischen Regierung sind, die Erweiterung der EU nicht zu einem Hauptanliegen ihrer Präsidentschaft zu machen, diese Entscheidung kam nach den bisherigen Versprechungen überraschend.