In ihrem 2020 erschienenen Roman „Der Sommer 1893 in Spillville“ verarbeitet die in Prag lebende Autorin Barbara Ortwein die Amerika-Reise der Dvořák-Familie.
Gebannt sitzt das Publikum am 16. Dezember 1893 in der New Yorker Carnegie Hall, als die ersten sanften, fast wehmütigen Töne von Antonín Dvořáks neunter Sinfonie erklingen. Spätestens nach dem donnernden Finale des ersten Satzes dürfte vielen Zuhörern bewusst geworden sein, dass sie Zeugen eines Welterfolgs geworden sind. Heute zählt Antonín Dvořáks Sinfonie „Aus der neuen Welt“ zu den beliebtesten und meistgespielten Orchesterwerken überhaupt.
Was sich dem Publikum an diesem Abend darbot, war tatsächlich eine kleine musikalische Revolution. Dvořák verwob „amerikanische“ Klänge, also Tonweisen der Indianer und Afroamerikaner mit volkstümlicher Musik aus seiner böhmischen Heimat. „Eigentlich wollte Dvořák Longfellows ‚Lied von Hiawatha‘ als Oper vertonen, was am Ende aber nicht funktionierte“, erklärt Barbara Ortwein. Die Autorin hat sich eingehend mit der dreijährigen Amerika-Reise der Familie Dvořák beschäftigt und die Ergebnisse ihrer Recherchen in einem historischen Roman verarbeitet.
Ein Sommer in Spillville
1892 nimmt der schon zu Lebzeiten berühmte Komponist eine lukrative Stelle am Konservatorium in New York an und tauschte seine böhmische Heimat gegen die aufstrebende Stadt an der US-amerikanischen Ostküste. Drei Jahre sollte Dvořák in den Staaten verbringen. Weniger bekannt war bisher über den Aufenthalt der Dvořáks im Sommer 1893 im ländlichen Spillville, einem verschlafenen Örtchen im Bundesstaat Iowa, wo sich ab 1854 Auswanderer vor allem aus Böhmen, aber auch aus Deutschland und der Schweiz niedergelassen hatten. Zu ihnen hatte auch die Familie des Geigers Joseph Jan Kovarik gehört, der aus den USA nach Prag gekommen war, um dort am Konservatorium zu studieren, und schließlich Dvořáks Assistent wurde. Als Kovarik die Dvořáks 1892 nach New York begleitete, entstand die Idee, zusammen Kovariks Heimatort zu besuchen.
In Spillville sollte Dvořák ein Stückchen Heimat finden, nach der er sich in New York so sehr sehnte. Genauer gesagt nach seinem Ferienhäuschen in Wissoka bei Pribram (Vysoká u Příbramě), wo er sich zu erholen pflegte, verschiedenen Tätigkeiten wie dem Gärtnern und der Taubenzucht nachging und wo er sich natürlich auch seinen Kompositionen hingab. In Amerika hatte ihm ein solcher Ort gefehlt. „In Spillville fühlte sich Dvořák so wohl, dass er am liebsten für immer dortgeblieben wäre. Nur seine Frau konnte ihn überzeugen, dass in Prag sein eigentlicher Platz sei“, verrät Ortwein. Einen wesentlichen Anteil an Dvořáks Wohlempfinden hatten vor allem die böhmischen Auswanderer, mit denen der Komponist gerne ins Gespräch kam. Nicht zuletzt bekam Dvořák in Spillville die Gelegenheit, mit amerikanischen Ureinwohnern und ihrer Musik in Kontakt zu kommen.
Auf informative aber ebenso unterhaltsame Weise erzählt Ortwein von der Reise und dem Sommer in Spillville. Dabei wechselt Ortwein in jedem der 16 Kapitel zwischen einem auktorialen, also allwissenden Erzähler und der Perspektive von Dvořáks damals 15-jähriger Tochter Otilie. Dadurch wirft die Autorin ein interessantes Schlaglicht auf Dvořák nicht nur als Komponist, sondern auch als Familienmensch. „Ich hatte hier im Dvořák-Museum einen Atlas von Otílka entdeckt, in dem sie Zeichnungen eingeklebt und sich Notizen gemacht hat. Es ist zwar kein Tagebuch, aber sie hat dort Vieles von dieser Reise festgehalten“, erzählt Ortwein über ihre Recherchen.
Auf Dvořáks Spuren
Die Autorin war für ihren Roman aber nicht nur in Prag unterwegs. Im Frühjahr 2019 besuchte Ortwein Spillville und konnte sich von dem kleinen Ort, der heute etwa 350 Seelen zählt, ein Bild machen. Vieles erinnert dort noch immer an die Auswanderer aus Böhmen: Viele Familien tragen tschechische Namen und die 1860 erbaute St.-Wenzels-Kirche ist heute die älteste böhmische Kirche in den USA.
In Spillville sprach Ortwein mit Menschen, deren Vorfahren in direktem Kontakt mit dem berühmten Komponisten standen, und besuchte Orte, an denen auch Dvořák weilte. In dem Haus, in dem Dvořák mit seiner Familie während der vier Monate im Sommer 1893 wohnte, befindet sich heute ein Museum. „Zum hundertjährigen Jubiläum des Dvořák-Aufenthaltes wurde ein ganzer Park errichtet, genau an der Stelle, wo Dvořák jeden Morgen um fünf Uhr in den Wald ging, um den Gesang der Vögel zu hören, vor allem den des scharlachroten Tangaren“, erzählt Ortwein. Dessen Gesang sollte Dvořák auch in seiner Musik verarbeiten, etwa in seinem 12. „amerikanischen“ Streichquartett F-Dur op. 96. Auch seine berühmte neunte Sinfonie „Aus der neuen Welt“ brachte der „Maestro“ in Spillville zur Vollendung.
Mit ihrem historischen Roman „Der Sommer 1893 in Spillville“ ist Barbara Ortwein eine plastische Nacherzählung von Dvořáks Amerika-Reise gelungen, die sich durch eine umfang- und detailreiche Recherche auszeichnet.
Lesung in Prag
Wer die Autorin Barbara Ortwein und ihr Werk näher kennenlernen und mehr Anekdoten von der Amerika-Reise der Familie Dvořák hören möchte, hat am 29. März ab 17 Uhr im Haus der nationalen Minderheiten in Prag (Vocelova 602/3) eine passende Gelegenheit dazu.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der LandesEcho-Ausgabe 3/2023
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