Ein Musical über die Vertreibung der Deutschen. Geht das überhaupt? Schüler aus Bayern und Böhmen haben sich an den schwierigen Stoff gewagt.
Stefan Daubner hebt beide Arme aus dem Orchestergraben heraus und gibt den Takt. Dann setzen die Instrumente ein und spielen das Vorspiel des Musicals „Tisá“. Daubner, Musiklehrer an einem Gymnasium in Pfaffenhofen in Bayern, steht am Pult des Stadttheaters in Tetschen (Děčín). Es ist die erste Durchlaufprobe an diesem Tag. Auf der Bühne befindet sich ein stilisierter Felsen, auf den Sabine und Tomáš, die beiden Hauptpersonen des Musicals, geklettert sind. Ihre Liebe ist 1945, als die Handlung einsetzt, zum Scheitern verurteilt. Denn sie ist Deutsche, er Tscheche und sie leben in dem früheren Sudetenland.
Nach drei Tagen Proben war es soweit. Ende September gab es die tschechische Premiere des Musicals „Tisá – eine Liebe ohne Grenzen“, seines Musicals. Damit ging für den 47-jährigen ein Traum in Erfüllung.
„Das Thema beschäftigte mich schon 30 Jahre“, sagte Daubner in einer Probenpause beim Kaffee hinter der Bühne, und meinte damit nicht weniger als ein Lebensthema. In Bayreuth geboren ist er Sohn von Menschen, die nach Kriegsende 1945 aus der ehemaligen Tschechoslowakei vertrieben wurden. „Meine Mutter war Jahrgang 1939 und wuchs in Eulau auf, dem heutigen Jílové. Als wir 1990 mit der Sektflasche vor ihrem ehemaligen Haus auftauchten, wurde die Tür schnell wieder zugesperrt. Den Sekt tranken wir dann alleine“, erinnert er sich, immer wieder unterbrochen von den Fragen der Schüler.
Auch am Haus der Großmutter in Tyssa (Tisá) schauten sie damals vorbei. Doch das Misstrauen war überall. Bis es wich, brauchte es 30 Jahre. „Ich war immer wieder hier und jedes Mal taute das Eis mehr“, sagt er. Das Haus der Großmutter in Tyssa gehörte inzwischen dem Kletterklub Lok Teplitz (Teplice). Als er auf der Webseite irgendwann das historische Bild des Hauses mit seinen Großeltern entdeckte, nahm er Kontakt zu dem Klub auf. Er wurde eingeladen, im Haus zu übernachten. Der Anfang war gemacht.
Daubner, der Lehramt Musik und Kirchenmusik in Würzburg studierte und für seine Doktorarbeit in Prag forschte, ist ein Macher. Sein Interesse endet nicht in Tschechien. Doch das Musical Tisá, gibt er zu verstehen, ist seine bislang wichtigste Arbeit.
„Mir geht es um die deutsch-tschechische Verständigung. So ist auch das Libretto angelegt. Ich wollte kein Musical über die Vertreibung, sondern wir schauen ins Heute und die Zukunft. Immerhin spielen hier Schüler.“ Das Libretto schrieb seine Frau. Für Daubner ist aber auch erhebend, in einem echten Theater zu spielen. „Zu Hause in Pfaffenhofen haben wir das Stück in einer Mehrzweckhalle aufgeführt“, sagt der Musiklehrer des dortigen Schyren-Gymnasiums.
Die Reihenfolge der Geschichte einhalten
Auch in Pfaffenhofen strandeten viele Vertriebene. Ihre Nachkommen sind auch unter Daubners Schülern, wie die 13-jährige Cornelia Diemer. Sie spielt im Wechsel mit einer anderen Schülerin die Hauptfigur der Sabine. „Ich kenne die Geschichte aus meiner eigenen Familie“, sagt sie. Es ist die Geschichte einer Liebe, die kaum begonnen, schon erstickt wurde durch nationalen Hass. Erst von deutscher Seite gegen die Tschechen, dann von tschechischer. Die Reihenfolge der Geschichte einzuhalten war Stefan Daubner wichtig und er zeigt sie drastisch. Die Rede von Sabines Vater, eines Oberscharführers der SS, den es so womöglich in dem kleinen Tyssa gar nicht gegeben hat, beruht auf originalen Reden der Nazigrößen Frank, Himmler und Dönitz. Daubner ist sich bewusst, dass auch dieser Teil des Musicals noch vor 20 Jahren nicht hätte gespielt werden können. „Auch die Sudetendeutschen mussten sich ändern und von ihren Forderungen abkommen“, sagt er.
Mindestens genauso drastisch ist die Vertreibung der Deutschen dargestellt. Tomáš begehrt dagegen auf, weil er spürt, dass hier Unrecht mit Unrecht vergolten wird. „Das sagst du doch nur wegen deines Flittchens“, herrscht ihn der Vater an.
Erstmals mit dem Thema beschäftigt
An der Geschichte ändert das Musical nichts mehr, weiß Jiří Holubec, der die Einstudierung der Solisten verantwortet. „Eine Aktion zeigt immer eine Reaktion“, zeigt er für die Vertreibung der Deutschen Verständnis. Dass sich das Musical aber so offen mit der Geschichte auseinandersetzt, sei ein großer Gewinn für die Schüler und nicht zuletzt auch für ihn selbst. „Bisher habe ich mich nicht so sehr mit dem Thema beschäftigt“, räumt der Tetschener ein. Und doch zögerten er und seine Frau keine Minute, auf die Anfrage von Stefan Daubner einzugehen, das Musical gemeinsam einzustudieren. Holubec‘ Frau ist Direktorin des Gymnasiums in Tetschen.
Anderthalb Jahre nach dieser Anfrage hat sich das Musical zu einem Großprojekt mit 150 Beteiligten entwickelt. Nicht nur Schauspieler, Musiker und Techniker sind Studenten, auch die Kulissen wurden von Studenten gebaut. Monatelange Vorbereitungen, eine Probenwoche im Juni und zwei Wochen im September später lief das Projekt auf seinen Höhepunkt zu: eine Aufführung im Theater von Tetschen und am Samstag der Abschluss im Kulturhaus der Kletterergemeinde Tyssa, da, wo alles begann.
Dass so ein Projekt nicht ohne Probleme abläuft, ist verständlich. Für die Tschechen ist Daubners Art oft zu dirigistisch. Daubner findet, dass die Tschechen zu viel meckern. Die Unterschiede in der Mentalität brechen auch hier durch. Doch beide Seiten winken über „diese Kleinigkeiten“ ab. Bei den Schülern bleiben Deutsche und Tschechen eher unter sich, ist Cornelia Diemers Eindruck. „Aber vielleicht besteht der Kontakt ja doch noch länger fort“, wünscht sie sich.
Das einmalige Erlebnis einer Musical-Aufführung aber bleibt. Daubner hofft vor allem auf eins: „Wir möchten, dass das nachwirkt.“