Auftritt der Kindergruppe der Gemeinschaft schlesisch-deutscher Freunde im Hultschiner Ländchen, Foto: Manuel Rommel

Vor 30 Jahren brachte die Samtene Revolution den Deutschen in der Tschechoslowakei die Freiheit zur Rückbesinnung auf die eigene Kultur und Sprache. Doch zunächst drohte auch eine Spaltung.

Rund drei Millionen deutschsprachige Bewohner wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Tschechoslowakei vertrieben. Etwa 200 000 konnten bleiben. Freilich sprachen ihnen die Beneš-Dekrete die Staatsbürgerschaft ab. Und anders als die übrigen Minderheiten – Ungarn oder Polen etwa – durften sie keinen Verband gründen. Ab 1949 konnte die Staatsbürgerschaft auf Antrag wiedererlangt werden, wovon wenige Deutsche Gebrauch machten, 1953 wurde sie von der Regierung für alle Staatenlosen angeordnet.

Diese Unsicherheit war für viele Angehörige der Minderheit ein Grund, das Land zu verlassen, meist Richtung Bundesrepublik. Dieser Exodus zwang die Kommunistische Partei zu einer neuen Politik gegenüber den Deutschen. Eine Folge war 1951 die Gründung einer Zeitung, die im Jargon der Zeit Aufbau und Frieden getauft wurde und die „Verbliebenen für den Sozialismus gewinnen“ sollte, erinnerte sich später Fritz Schalek (1913–2006), einer der ersten Redakteure.

Nach der Ablösung von Antonín Novotný als Erster Sekretär der Kommunistischen Partei durch Alexander Dubček, der einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ anstrebte, stellte sich die Prager Volkszeitung, wie Aufbau und Frieden inzwischen hieß, auf die Seite der Reformer. „Liebe deutsche Leser der Volkszeitung, auch für euch hat eine bessere Zukunft begonnen!“ verkündete das Blatt. Auch in der DDR fand sie guten Absatz. „In Dresden war sie am ersten Tag an jedem Kiosk sofort vergriffen“, schreibt ein Leser. Zwei Ausgaben durften jedoch auf Weisung der SED nicht ausgeliefert werden. Schalek hatte den Chefideologen Kurt Hager in einem Artikel aufgefordert: „Kommen Sie nach Prag!“. Der DDR-Politiker, der den Genossen im Bruderland vorgeworfen hatte, sie hätten sich vom Westen korrumpieren lassen, solle sich – verlangte Schalek – vor Ort davon überzeugen, dass der Prager Frühling eine im Land gewachsene Reformbewegung sei. Schalek wurde 1968 Chefredakteur der Volkszeitung. Im Reformjahr wurden die Deutschen offiziell als nationale Minderheit anerkannt. Journalisten der Volkszeitung bereiteten in Leserkonferenzen die Gründung eines Verbandes vor. Schalek hatte „nie wieder eine solch Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Tschechen erlebt“.

Schalek Aufbau und Frieden CB web

Im August 1968 marschierten sowjetische Truppen in Prag ein, besetzten auch die Redaktion der Volkszeitung. Die Redakteure gingen in die Provinz, um die Zeitung dort zu produzieren. Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings war der Aufschwung für die deutsche Minderheit nicht beendet. 1969 gründete sich der Kulturverband (KV), Schalek wurde in den Vorstand gewählt, der KV wuchs schnell auf 5 000 Mitglieder. Mit Walter Piverka (1931-2015), ebenfalls im KV-Vorstand, saß ein Deutscher im Nationalrat der Tschechoslowakei.

Die Gründung des Verbandes wurde innerhalb der Minderheit wie außerhalb, etwa in der benachbarten DDR, argwöhnisch beäugt. In Schreiben, die zwischen linientreuen Funktionären der Minderheit und der DDR-Regierung hin- und hergingen, wurde etwa Schalek als „Rädelsführer“ und „Rechter“ bezeichnet. Die Volkszeitung sei unter seiner Leitung ein „Zentrum antisozialistischer Bestrebungen“ geworden. Die nach dem Ende des Prager Frühlings eintretende „Normalisierung“ hatte für die vermeintlich antisozialistischen Aktivisten schwerwiegende Folgen: Schalek wurde aus dem KV geworfen, als Chefredakteur der Volkszeitung entlassen und aus der Kommunistischen Partei entfernt. Piverka verlor außer seinem Posten im KV-Vorstand und seiner Arbeit als Redakteur der Volkszeitung auch sein Nationalratsmandat.

Die Führung des KV wurde mit linientreuen Kommunisten besetzt. Wie in der gesamten tschechoslowakischen Bevölkerung kam es nach der gewaltsam beendeten Reform auch unter den deutschsprachigen Bewohnern zu einer neuen Ausreisewelle, mehrere Tausend verließen das Land Richtung Westen. Mitte der Achtzigerjahre war, so der tschechische Historiker Tomáš Staněk, die „deutsche Nationalität nicht mehr zur Reproduktion fähig“, weil etwa die Hälfte älter als fünfzig waren.

Neuanfang mit Hindernissen

Im Herbst 1989 kam es in den Ländern des Ostblocks immer häufiger zu Demonstrationen gegen die kommunistischen Regime – auch in Prag. In der Tschechoslowakei sammelten sich die Reformkräfte in einem Bürgerforum, in dem sich eine Minderheitenkommission mit einer Sektion für die Deutschen bildete. Walter Piverka war einer der Akteure, der sich vor allem für die Minderheitenrechte einsetzte. Er traf sich jenen bewegten Tagen mit zwei anderen der 1970 ausgeschlossenen Gründungsmitglieder des KV: Fritz Schalek und Arnold Keilberth. Und zwar „um zu beraten, was getan werden kann, ja muss, damit dieser Umbruch auch für die deutsche Minderheit im Lande einen Neubeginn darstellt“, erinnerte sich Piverka später. „Fritz Schalek vertrat die Ansicht, dass – so wie im Jahre 1968, während des Prager Frühlings – die Redaktion der Prager Volkszeitung aktiv werden müsse, um die Wende zu unterstützen. Er nahm sich vor, als ehemaliger Chefredakteur in die Redaktion zu gehen und die Redakteure dazu aufzurufen.“ Das geschah dann auch: Im Dezember besuchte Schalek spontan die Redaktion und wies darauf hin, dass es mit der führenden Rolle der Kommunistischen Partei vorbei sei und man über eine Reform im KV nachdenken müsse. Die Redakteure ließen sich davon nicht beeindrucken.

Walter Piverka 2015 im Begegnungszentrum in Komotau tra web

Im Januar 1990 trafen sich die Reformer um Schalek und Piverka erneut mit Vertretern des KV. Ihre Forderungen waren jetzt konkreter: Wahl einer neuen Führung und Rehabilitierung der 1970 Ausgeschlossenen. Das lehnten die Funktionäre ab. Erst kurz darauf, im Februar, lenkte der Verband ein: „Der Zentralausschuss rehabilitiert alle Funktionäre und Mitglieder des Verbandes, die in den Jahren 1969/70 aufgrund ihres politischen Verhaltens geschädigt und verfolgt wurden.“ Ihnen wird auch die Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft und die weitere Mitarbeit angeboten.

Doch die einst Geschassten gingen längst eigene Wege, planten eine neue Organisation: Der „Verband der Deutschen in der Tschechoslowakei“ (VdD) wurde im April vom Innenministerium registriert. Die Prager Volkszeitung, in der Piverka und Schalek einst gearbeitet hatten, schien für neue Ideen nicht zugänglich. Deshalb wurden Flugblätter gedruckt. Im Sommer entstand mit der Deutschen Zeitung ein zweites Blatt für die Minderheit. Nach zehn Ausgaben musste es wieder eingestellt werden. Innerhalb des im Aufbau befindlichen VdD bildete sich eine Gruppe, die Verbindungen zum KV aufnahm und sich „Verband der Deutschen – Kulturverband“ nannte. Die drohende Spaltung wurde jedoch verhindert. Der VdD gründete sich im August offiziell. Im südböhmischen Budweis (České Budějovice) wurde ein erstes Begegnungszentrum aufgebaut. Im Herbst gründete der VdD einen Dienstleistungsbetrieb, der nicht nur Bauarbeiten aller Art ausführen, sondern auch eine Zeitung herausgeben will. Der neue Verband bekam immer mehr Zulauf, 1991 eröffnete er eine „Grundschule der deutsch-tschechischen Verständigung“ in Prag.

In vielen Regionen entstanden wie in Prag neue Verbände der Minderheit. Der KV erhielt seine vor 1989 existierenden „Grundorganisationen“ aufrecht, was in einigen Gegenden dazu führte, dass KV-Gruppen neben neuen bestanden und man Gefahr lief, sich gegenseitig das Wasser abzugraben. 1992 gründete sich in Reichenberg (Liberec) die Landesversammlung (LV) der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien, die ein Dachverband für die regionalen Verbände werden sollte – auch für den KV. Doch: „Die verantwortlichen Gremien“, hieß es in einer Verbandspublikation, „konnten sich unter den gegebenen Bedingungen nicht zu einem Beitritt entschließen.“ Im Laufe der darauffolgenden Jahre kam es zu einer Annäherung. 1997 vereinbaren LV und KV: „Beide Organisationen unterlassen ab sofort gegenseitige schriftliche wie auch mündliche Ausfälle.“

Die LV baute einen Jugendverband auf, in dem neben Vertretern der deutschen Minderheit auch Tschechen Mitglied sind, die sich für deutsche Sprache und Kultur interessieren. Im KV gelingt es nicht, eine Nachwuchsarbeit aufzubauen. 2005 wird die Prager Volkszeitung, aus der der KV 1969 hervorgegangen war, wegen finanzieller Probleme eingestellt. Die LV gibt heute mit dem Landesecho eine eigene Zeitschrift heraus. Heute sitzt jeweils ein Vertreter von KV und LV im Rat der Minderheiten, der die tschechische Regierung berät. Freilich betrachten sich immer weniger Einwohner Tschechiens als Deutsche: Bei der jüngsten Volkszählung 2011 waren es rund 19 000, während es zehn Jahre zuvor noch etwa doppelt so viele waren. Die LV beziffert ihre Mitglieder auf 7 000, der KV gibt 900 an. Die einst verhärteten Fronten sind inzwischen aufgeweicht: 2016 unterzeichneten die Vorsitzenden beider Verbände eine Kooperationsvereinbarung.

Werden Sie noch heute LandesECHO-Leser.

Mit einem Abo des LandesECHO sind Sie immer auf dem Laufenden, was sich in den deutsch-tschechischen Beziehungen tut - in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur. Sie unterstützen eine unabhängige, nichtkommerzielle und meinungsfreudige Zeitschrift. Außerdem erfahren Sie mehr über die deutsche Minderheit, ihre Geschichte und ihr Leben in der Tschechischen Republik. Für weitere Informationen klicken Sie hier.