Am gestrigen Feiertag, dem “Tag des Sieges“, öffnete das tschechische Abgeordnetenhaus seine Türen für die Öffentlichkeit und bot seltene Einblicke in das Zentrum der tschechischen Demokratie. Neben einer Führung war auch ein Besuch des Bildungsstudios “Parlamentarium” möglich.

Bereits vor neun Uhr, als die Führungen offiziell begannen, versammelten sich die ersten Interessierten in einer Schlange vor dem Eingang zum Plenarsaal von Kleinseitner Platz aus. Jarmila, eine Dame im Rentenalter, reiste extra aus Olmütz (Olomouc) an. ,,Ich besuche meine Enkelkinder in Prag und dies verbündete ich mit einem Besuch des Abgeordnetenhauses. Ich fand es interessant, die Räumlichkeiten auf eine andere Art und Weise zu sehen als nur aus dem Fernsehen“, sagt sie. 

Die Tourbegleiter stellten die architektonischen Besonderheiten, Geschichte und aktuelle Nutzung der Gebäude des Unterhauses vor. Im Rahmen der Führung konnten die Besucher durch Sitzungssäle, Flure und das Büro des Vorsitzenden des Landwirtschaftsausschusses gehen. Der Hauptsitzungssaal ist traditionell die größte Attraktion. Die erste Gruppe wurde von der Parlamentspräsidentin Markéta Pekarová Adamová (TOP 09) dorthin begleitet, die Fragen beantwortete. Sie versicherte den Anwesenden, dass die Abwesenheit eines Abgeordneten im Plenarsaal nicht bedeute, dass er nicht arbeite. ,,Wir haben in jedem Büro einen Bildschirm, und wir beobachten genau, was vor sich geht. Wenn wir abstimmen oder eine Rede halten wollen, kommen wir zurück.“

Die Besucher konnten auch die kleineren Sitzungsräume mit einem Führer von Czechtourism besichtigen. Foto: Natálie Marie Vaňková
Die Besucher konnten auch die kleineren Sitzungsräume mit einem Führer von Czechtourism besichtigen. Foto: Natálie Marie Vaňková

Das Parlamentarium: Ein interaktives Erlebnis für alle Altersgruppen

Das Programm berücksichtigte auch die jüngeren Teilnehmer, die einen Blick in das “Parlamentarium” werfen konnten – einen Bildungsraum im historischen Teil des Palais Sternberg. Die interaktive Ausstellung ist seit September 2023 ganzjährig geöffnet und richtet sich vor allem an Schulklassen. Anhand von Multimedia-Präsentationen führen die Führer interessierte Besucher in die Geschichte, den Auftrag und die Tätigkeiten des Parlaments ein. Die Ausstellung umfasst unter anderem eine exakte Nachbildung des Rednerpults des großen Abgeordnetenhauses und ein Modell der Kleinseite, das die Gebäude des Abgeordnetenhauses hervorhebt, und vieles mehr. 

,,Ich denke, dass ich das nächste Mal mit meinen Enkelkindern hierher kommen werde, das ist wirklich originell gemacht“, meint Jarmila. Auch andere wichtige Institutionen hatten gestern ihre Türen für die Öffentlichkeit geöffnet, darunter der Senat und der Hrzán-Palast, der derzeit für repräsentative und diplomatische Zwecke genutzt wird. Laut Kateřina Součková von der Medien- und PR-Abteilung des Abgeordnetenhauses nutzten mehr als 1000 Personen den Tag der offenen Tür, um einen Blick hinter die Kulissen der tschechischen Demokratie zu werfen. Am 28. Oktober gibt es erneut die Möglichkeit, das Abgeordnetenhaus und weitere Institutionen zu besuchen.

Besucher konnen sich am Rednerpult im ’’Parlamentarium’’ fotografieren lassen. Foto: Natálie Marie Vaňková
Besucher konnen sich am Rednerpult im ’’Parlamentarium’’ fotografieren lassen. Foto: Natálie Marie Vaňková
Auch das Büro des Vorsitzenden des Landwirtschaftsausschusses war zu sehen. Foto: Natálie Marie Vaňková
Auch das Büro des Vorsitzenden des Landwirtschaftsausschusses war zu sehen. Foto: Natálie Marie Vaňková

Ein Zeuge der Geschichte und Heimat der Demokratie in Tschechien

Die Geschichte eines der ältesten Parlamentsgebäude Europas, des Abgeordnetenhauses der Tschechischen Republik, beginnt ganz am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Um 1720 erwarb die bedeutende Adelsfamilie von Thun mehrere Grundstücke auf der Prager Kleinseite in unmittelbarer Nähe zum Palais Waldstein, ließ die mittelalterlichen Häuser darauf abreißen und das Gebäude – das Palais Thun – in seiner heutigen Form erbauen. 80 Jahre später wurde das Gebäude Sitz des Böhmischen Landtags, und zweihundert Jahre nach seiner Fertigstellung versammelten sich 1918 im historischen Plenarsaal die Vertreter des Volkes, um die Familie Habsburg-Lothringen vom böhmischen Thron zu stürzen. Kurz nach der Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg riefen sie einen unabhängigen Staat aus – die Tschechoslowakische Republik. Nach der Föderalisierung dieses Staates im Jahr 1968 wurde das Gebäude des ehemaligen Landtages dem gesetzgebenden tschechischen Nationalrat übergeben und nach der Teilung des gemeinsamen Staates der Tschechen und Slowaken im Jahr 1993 zum Sitz einer der beiden Kammern des souveränen Parlaments der Tschechischen Republik – des Unterhauses. 

Das tschechische Parlament

Die legislative Gewalt in der Tschechischen Republik liegt beim Parlament, das aus zwei Kammern besteht: dem Abgeordnetenhaus und dem Senat. Das Abgeordnetenhaus setzt sich aus 200 Abgeordneten zusammen, die für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt werden, während der Senat 81 Senatoren hat, die für sechs Jahre gewählt werden. Alle zwei Jahre wird ein Drittel der Senatoren neu gewählt. Die Parlamentswahlen erfolgen durch geheime Abstimmung gemäß dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht. Im Abgeordnetenhaus wird das Verhältniswahlrecht angewendet, während im Senat das Mehrheitswahlrecht gilt. Um ins Abgeordnetenhaus gewählt zu werden, muss ein Staatsbürger das 21. Lebensjahr erreicht haben, während für den Senat ein Mindestalter von 40 Jahren erforderlich ist. Es ist nicht möglich, gleichzeitig Mitglied beider Kammern des Parlaments zu sein.

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